Freitag, 27. Oktober 2017

Heimliches Gift Kapitel 3 Ende


Das Ergebnis der Überlegungen war am frühen Mittwochnachmittag der Gang in den Praxisraum von Frau Dr. Weise unten in der Pflegeabteilung.

„Ich sag‘ es Ihnen noch einmal, so etwas ist Sache des Arztes. Das war eigenmächtiges Handeln. Dass Sie noch neu hier im Haus sind, das ist keine Entschuldigung. Sie haben doch eine Ausbildung, oder?“ Beim letzten Satz überschlug sich die Stimme von Dr. Weise.
Ruth war abrupt stehen geblieben, als sie durch die offene Tür die Auseinandersetzung mitbekam. Worum mochte es gehen? Sie scheute sich, weiter zu gehen, wollte niemanden in Verlegenheit bringen.
„Bitte melden Sie mich nicht der Geschäftsführung“, Ruth hörte die zitternde Stimme einer jungen Frau „ich hatte Mitleid mit der armen alten Frau, es sah so hässlich aus. Sie war tot und ihr ganzes Gesicht war bedeckt von Erbrochenem, auch ihr Nachthemd – das musste ich doch abwischen.“ Die Schwester schluchzte. „Ihre arme Tante.“
„Ja, ja, gut. Ich werde nichts melden. Sie haben Ihren Fehler gutgemacht, Sie haben mir das Fehlverhalten gestanden. Gut. Gut.“
Was war da los? Es entstand eine Pause, die Ärztin schien zu überlegen, was sie sagen sollte. Eine ziemlich lange Pause, Ruth trat den Rückzug an. Man musste sie hier nicht stehen sehen. Ging sie das etwas an? Ihre arme Tante. Ja, das ging sie etwas an. In ihrer Wohnung fuhr sie den Laptop hoch und überlegte sich eine Frage. Folge Vergiftung Digitalis. Das war’s. Dazu musste sie etwas wissen. Ein deutliches Zeichen war Erbrechen, davon hatte die junge Schwester gesprochen. Übrigens, das musste sie Eveline sagen, es ist der rote und nicht der blaue Fingerhut, der so giftig ist. Die Frage: Sterbehilfe oder Mord war damit nicht geklärt. Oder doch?

Ruth musste millimetergenau in der Tiefgarage rangieren, um nicht auf irgendetwas Abgestelltes aufzuprallen, diesmal ein Rollstuhl, herrenlos oder vielmehr damenlos, sie kannte ihn. Dabei hatte sie es eilig, sie hatte einen Festtermin für den herbstlichen Reifenwechsel. Der Weg über die Dörfer war ihr inzwischen geläufig, eigentlich nicht Dörfer, sondern Kleinstädte: Erkrath-Hochdahl, Haan und Hilden: ihr Ziel. Nur eine Viertelstunde Fahrzeit, also pünktlich.
Sie bekam einen Platz und Kaffee angeboten. Tiefe Sessel, echt Leder, wie leicht festzustellen war. Schicke Kaffeemaschine, tolle Kaffeetassen. Das alles für Smartbesitzer – Donnerwetter. Ein Blick auf die großformatigen Fotos an den Wänden des Warteraums ernüchterte sie: keine Smarts nur Mercedes-Karossen unterschiedlicher Größe und auf unterschiedlichen Schauplätzen. Ja, richtig, beide Fahrzeugarten gehörten zur selben Familie: Daimler. Nett, dass die armen Verwandten hier Platz nehmen durften.
Der Gedanke an Verwandte brachte Ruth zu ihren vielen Fragen zurück. Wer aus der Familie Niemann hatte es fertiggebracht, eine so nahe Verwandte wie Ehefrau oder Mutter oder Schwägerin – nicht verwandt, sondern verschwägert, fiel ihr ein – zu ermorden? Eveline hatte ganz andere Vorstellungen als sie selbst. Wer hatte Recht? Der Reifenwechsel war, wie angekündigt, eine Sache von Minuten¸ der Preis lag fest: 79 Euro. Wechsel und Lagerung.
Auf der Rückfahrt verbot Ruth sich weitere Überlegungen, sie musste auf den Verkehr achten, irgendwelche Patzer sollten ihr nicht mehr passieren. Es hatte sie neulich sehr deprimiert, dass sie jemand die Vorfahrt genommen hatte – nicht mit Absicht, sondern wegen Schusseligkeit. Nur ja keinen Unfall bauen, dann war der Führerschein weg, für alle Zeiten – in ihrem Alter. Nun hatte sie sich doch nicht konzentriert, sondern wieder an den Patzer gedacht. Aber sie kam heil zu Hause an, in der Tiefgarage. Die war ihr immer ein bisschen unheimlich, an vielen Stellen standen Dinge herum, die die Handwerker oder der Gärtner brauchten – und hinter denen sich jemand verstecken konnte.

Drei vergebliche Anrufe von Eveline kündigte die Sprachbox der Telekom an. Woher wussten die eigentlich immer genau, wann ein Teilnehmer nach Hause kam? Darüber hatten Eveline und sie immer mal wieder spekuliert – unter dem Motto „die größten Rätsel der Menschheit“. Oder hatten sie heute schon x-mal bei ihr angerufen, um Anrufe zu melden?
Eveline hatte wahrscheinlich weitere Überlegungen angestellt und wollte ihre Ergebnisse mitteilen. Jetzt nicht, sagte sich Ruth und hängte ihre Outdoorjacke zum Lüften auf. Nächster Schritt: Tässchen Kaffee. Dann Sessel und Beine hoch. Man war ja nicht mehr zwanzig – stehende Redensart zwischen Eveline und ihr.
Ruth brauchte eine Pause, sie musste erst einmal in Ruhe über das Gespräch in der Pflegeabteilung nachdenken. Geklärt war nichts.

Es galt, alle Möglichkeiten zu durchdenken. Die Grundfrage war doch: Sollte es eine Testamentsänderung geben? Bei nein konnte es Sterbehilfe oder Mord sein. Bei ja war Mord wahrscheinlicher. Denn wenn ich meine Söhne herbeirufe, um mit ihnen über das Testament zu sprechen und von ihnen Abschied zu nehmen, dann verschiebe ich die Sterbehilfe. Es sei denn – Ruth schreckte hoch – Frau Niemann hatte ihre Vertrauensperson darum gebeten, ihr nicht zu sagen, wann sie die tödlichen Tabletten nahm. Das konnte durchaus sein. Aber – hieß es nicht, es seien zwei verschiedene Tabletten erforderlich, um einen friedlichen Tod zu ermöglichen? Ja – der friedliche Tod: Den hatte die Ärmste nicht gehabt. Die Ärztin hatte gesagt, dass es kein friedlicher Tod gewesen sein konnte und heute hatte sie herausgefunden, dass es Spuren einer Vergiftung gegeben hatte. Und hatte die Ärztin nicht von der Testamentsänderung gesprochen? Sie sollte besonders bedacht werden. Dann wäre sie unschuldig. Umgekehrt? Dann hätte sie die Testamentsfrage gar nicht erwähnt.
Und die Söhne? Zumindest einer hatte nicht gewusst, warum er hergebeten worden war. Sein Bruder hätte es ihm sicher gesagt, wenn er es gewusst hätte. Hätte, hätte. Da blieb etwas offen. Sie waren beide erst nach dem Tod eingetroffen. Wirklich?
Die Schwägerin? Hätte sie denn einen Grund gehabt? Eveline meinte: ja. Zum Wohle ihres Bruders. Woher konnte sie von einer geplanten Testamentsänderung wissen? Konnte sie, denn die beiden waren doch enge Vertraute gewesen, Stichwort „Begleitservice“.

Ruth schwirrte das alles im Kopf herum, sie ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Sie hob die Flasche, um in das Glas einzuschenken, das immer neben der Flasche stand. Plötzlich erstarrte sie, ein Gedanke blitzte durch ihren Kopf – die Flasche schwankte in ihrer Hand, zitterte über dem Glas und krachte zu Boden. MORD. Sie war sich ganz sicher: Es war ein Mord. Frau Niemann war ermordet worden. Es konnte gar nicht anders sein. Ruth stützte sich auf dem kleinen Sideboard in der Küche ab. Niemann! Er hatte seiner Frau Tabletten gegeben, die erst nach einer gewissen Zeit wirkten. Gab es so etwas? War dann abgereist, das Gift hatte gewirkt. Hatte die Folgen gehabt, die die Schwester beseitigt hatte. Was mögen das für Tabletten gewesen sein? Es gab nur eine Lösung für alle Fragen: Polizei.
Ruth starrte auf die Scherben und das immer noch sprudelnde Wasser. Gott sei Dank war die Flasche am späten Abend ziemlich leer gewesen, dachte sie, nüchtern wie sie nun einmal war. Aber dann begann sie, hysterisch zu schluchzen. Aus einem Gedankenspiel war Realität geworden. Sie rannte ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Dieser Vorstellung war sie nicht gewachsen.

„Bergmann“, meldete sich Ruth mit leiser Stimme, nachdem sie nach dem Telefon auf der Station an ihrem Bett gehangelt hatte.
„Ach, du bist doch mal zu Hause?“ Ein wenig schnippisch hörte sich das an. Verständlich, dachte Ruth – nach drei vergeblichen Anrufen. Friedlich antwortete sie: „Ich musste doch endlich mal die Winterreifen aufziehen lassen, ich war in Hilden.“
„Na, gut, verziehen. Übrigens – können wir nicht auch mal eine kleine Spritztour nach Hilden machen und die strata coloniensis suchen?“ Ruth war froh über die Ablenkung und meinte, das könnten sie in den nächsten Tagen machen. Sie hatte eine gewisse Vorstellung davon, wo sie die „Straße“ suchen könnten. Auf einer Internetseite sah sie allerdings aus wie ein matschiger Trampelpfad.
„Allzu viel dürfen wir nicht erwarten, viele Jahrhunderte sind drüber weggegangen.“
„Ja, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kann mir vorstellen, wie es aussieht, ich habe mit Henk Römerstraßen in der Eifel gesucht. Nur Feldwege sind von den stolzen Römerstraßen übriggeblieben. Am Rande findet man Steine aus der unteren Packung der Straßen. Die haben wir als Trophäen mitgenommen, wir waren stolz darauf, dass wir einen Teil der Straße durch die Eifel gefunden hatten. Die von Trier nach Köln – und umgekehrt.“
„Keine Ahnung, wie das bei den Mittelalterstraßen aussieht. Wir können ja mal eine kleine Schaufel mitnehmen.“ Könnte spannend werden, dachte Ruth. Gleichzeitig dachte sie darüber nach, wie viel sie Eveline von ihren neuen Erkenntnissen mitteilen sollte.
„Wie geht es eigentlich weiter mit unseren Überlegungen zum ‚unerwarteten Tod‘?“
„Keine Ahnung“, sagte Ruth und schämte sich ein bisschen. Sie musste erst darüber nachdenken, ob sie Eveline in eine so gravierende Sache hineinziehen konnte. Sie war gesundheitlich immer noch nicht wieder auf der Höhe.
„Wir müssen uns morgen Abend wieder einmal zusammensetzen und unsere Puzzlesteine betrachten.“
„Wieso erst am Abend.“
„Computer-Club.“
„Ja, gut, also morgen Abend bei mir.“



„Ich habe mir was überlegt.“ Eveline hatte ihre Korridortür geöffnet und zog Ruth am Arm in ihre kleine Diele. „Es war Mord. Niemand aus der Familie, nein, jemand vom Begleitservice!“
Ruth war stehengeblieben und betrachtete Eveline skeptisch. Der Begleitservice? Und warum?
„Komm erstmal rein, ich habe uns ein kleines Abendessen gezaubert.“ Eveline ging an den kleinen Tisch vor dem Fenster, auf dem sie angerichtet hatte. Ruth folgte ihr, setzte sich und betrachtete ihre liebe Freundin weiterhin, ohne etwas zu sagen.
„Da bist du sprachlos, nicht wahr?“, fragte die und blickte Ruth erwartungsvoll an.
„Ja, wirklich. Das finde ich eine kühne Idee. Warum sollte ein völlig fremder Mensch …“ Ruth würde nie an Evelines Verstand zweifeln, an ihrem logischen Denken schon. „Wie soll es denn dazu gekommen sein?“
„Darüber müssen wir eben noch nachdenken. Man muss doch alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Und da war doch noch dieser Mann, der bei der Trauerfeier geweint hat …“
Eveline war und blieb sprunghaft, dachte Ruth. „Alle Möglichkeiten? Wie wärs denn mit der: Sie ist vom Blitz erschlagen worden?“
„Du nimmst mich nie ernst.“ Und nun konnte Eveline auch nicht ernst bleiben, sie sahen sich an und lachten beide, bis die Tränen kamen.
„Guten Appetit“, sagte Eveline. „Und am Ende ist es immer der Gärtner.“
Wie weiter? Das fragte sich Ruth, als sie wieder in ihrer eigenen Wohnung war. Eveline hatte ihre neuen Ideen nur ausgebreitet, um einen unterhaltenden Abend zu haben. In Wirklichkeit glaubte sie weiter daran, dass der unerwartete Tod nur durch eine Sterbehilfe eingetreten sein konnte. Die früheren Überlegungen zu Testamentsänderungen waren für sie anscheinend nur Gedankenspiele gewesen. Aber die Zeit der Gedankenspiele war vorbei.

Und die Zeit der Leseproben auch. Das E-Book ist veröffentlicht und kann bei Amazon erworben werden.
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Donnerstag, 26. Oktober 2017

Heimliches Gift weiter Kapitel 3


Ein ruhiger Herbsttag, sonntägliche Stille. Ruth stand am Fenster und betrachtete die letzten Nebelschleier, die noch in den Bäumen am Kirchberg hingen. Der Blick in die Ferne endete schon an den Bäumen, die in den Gärten der nahen Häuser standen. Sie musste sich stimmungsmäßig entscheiden zwischen „schön herbstlich“ und „trostlos“. Es gab keine Entscheidung – ihr Gefühl maulte: trostlos. Sie war in diese Seniorenwohnanlage eingezogen, um sich einen friedlichen Lebensabend zu sichern. Friedlich war er, sie musste sich um nichts kümmern, keine Hausarbeit, kein Waschtag, keine arbeitsreiche Sorge ums tägliche Brot. Das Mittagessen im Speisesaal war sozusagen Pflicht, für Frühstück und Abendessen kaufte man im nahegelegenen Edeka-Markt ein.

Das alles hatte seine Schattenseiten. Sie wohnte jetzt seit ungefähr einem Jahr hier. Durchschnittlich wurden jeden Monat fünf neue Bewohner begrüßt, sie konnte sich also leicht ausrechnen, wann niemand mehr von den Leuten lebte, die bei ihrem Einzug hier gewohnt hatten. Immer neue Gesichter bei den hausinternen Veranstaltungen: Lesungen, Konzerte der leichten und der ernsten Muse; hin und wieder zusätzliche Festessen wie gestern Abend. Ausflüge wurden immer weniger veranstaltet – wegen der steigenden Anzahl von Rollatoren. Das wurde allgemein beklagt. Trostlos.

Ruth wandte sich vom Fenster ab und ging an ihren Arbeitsplatz. Sie musste sich ablenken von den herbstlichen Gedanken. Und erst recht wollte sie nicht wieder das Thema Sterbehilfe in ihr Leben lassen. Morgen Abend wollten sie im „Geschichtsverein“ über die am Haus vorbeiführende strata coloniensis sprechen. Einer mittelalterlichen Handelsstraße zwischen Köln und Werden. Essen-Werden. Alte Straßen waren das Lieblingsthema von Friedhelm Angerhaus, dem netten Nachbarn, der den Geschichtsverein leitete. Er hatte sie längst angesteckt mit seiner Begeisterung für Straßen und ihre Geschichte. Ein bisschen Vorbereitung konnte nichts schaden. Und die lenkte ab von „trostlos“.



Auf dem Weg zum Raum Wuppertal, in dem der Geschichtsverein montags zusammenkam, fiel Ruth ein, dass Friedhelm und Hilde in der vorigen Woche das Thema Sterbehilfe angeschnitten hatten. Nicht in der Gruppe, sondern hinterher bei dem üblichen Gläschen Wein. Heute würde sie sich nicht in ein solches Gespräch verwickeln lassen. In ihren Gedanken spukte längst das Wort „Mord“.
Der Raum wirkte nicht gerade anheimelnd, gar nicht der Stil des Hauses, fand Ruth. Sah aus, als hätten sich lauter alte Möbel hier zusammengefunden. „Trostlos“ wäre auch hier durchaus angebracht. Wie anders hatte der Raum bei der Trauerfeier Niemann ausgesehen. Ruths Blick fiel auf die Kondolenzmappe, die auf dem Sideboard lag. Daneben ein Strauß Herbstblumen, Seide. An der übrigen Wand die Stühle, die nicht benötigt wurden. Sammelsurium.
In der Mitte des Raumes ein großer Tisch, Wassergläser und Wasserflaschen. Alte Leute müssen viel trinken. Ob sie mögen oder nicht. Um den Tisch herum ein paar Stühle, hier einheitlich. Den Vorsitz hatte wie immer Friedhelm Angerhaus, der Erfinder und Leiter dieser Gruppe, die er Geschichtsverein nannte. Rechts von ihm saß Hilde, Hilde Wintzig. Sie galt in der Gruppe als die Kompetenteste, nach Friedhelm natürlich. Schließlich war sie im Berufsleben Leiterin einer Volkshochschule gewesen. Links von Friedhelm hatte Ruth einen leer gewordenen Platz erobert. Neben ihr hatte sich mit einem leichten Stöhnen Ingeborg Heltrup niedergelassen, auch eine sehr engagierte Geschichtskundige. Düsseldorferin und kein Kind von Traurigkeit, wie Hilde von ihr sagte. Ruth lächelte ihr zu. Flüchtig kam ihr der Name „Ingelein“ in den Sinn. Ein Beitrag aus der Gerüchteküche: Ingelein hatte angeblich einen Escortservice geleitet, bevor sie in die Kosmetikbranche eingestiegen war. Soll alles sehr erfolgreich gewesen sein, ihre elegante Ausstattung sprach dafür.

Nachdem sich alle begrüßt und die eine oder andere wichtige Neuigkeit ausgetauscht hatten, griff Friedhelm zu einem mitgebrachten Löffelchen, klopfte an sein leeres Glas und eröffnete die „Sitzung“. Er schien guter Laune zu sein, oder sah das nur so aus, weil er immer so einen verschmitzten Ausdruck im Gesicht hatte. Ruth konnte ihn gut leiden, obwohl sie nicht immer einer Meinung waren. Es ging heute um die unterschiedlichen Trassen der inzwischen allseits bekannten strata coloniensis. Auf der Strecke von Köln nach Essen führte sie von Hochdahl aus über die Hügel des Niederbergischen Landes nach Norden. Ruth hatte sich bereits über Google kundig gemacht und versank in einen leichten Dämmerschlaf. Sie betrachtete die übrigen Teilnehmer der Runde: Das Ehepaar Overkamp, Winfried, der etwas Grämliche, und Brigitte, seine muntere Ehefrau mit den blonden Löckchen. Sie lachte über einen Scherz, den Friedhelm wohl gerade gemacht hatte, ihre Löckchen wippten im Takt, was Ruth immer sehr sympathisch fand. Daneben das Ehepaar Schmidt, beide über neunzig, geistig vollkommen auf der Höhe und wie immer interessiert lauschend. Sie stammten aus einem Nachbarort und hatten eigene Kenntnisse über ihre Heimat, die sie gerne teilten. Friedhelm war ehrlich erfreut über ihre Beiträge, das brachte ein wenig Leben in die Runde. Mehrere Plätze waren heute Abend leer geblieben. Ruth hatte ein schlechtes Gewissen, sie hatte versprochen, sich an Hanne zu wenden, um zu erkunden, ob sie im Geschichtsverein mitmachen wolle. Hatte es leider vergessen.



Am nächsten Morgen konnte Ruth ihr Versprechen einlösen, Hanne lief ihr vor dem Aufzug über den Weg. Sie schien von der Aufforderung zur Teilnahme geschmeichelt zu sein und versprach, Friedhelm Angerhaus anzurufen und ihm ihr Kommen zuzusagen.
„Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee? Bis zum Mittagessen ist noch Zeit“, fragte sie.
„Ja, gern“, sagte Ruth und sie gingen zurück zu Hannes Wohnung. Hanne hatte ein großes Ein-Raum-Apartment gemietet, auch sie hatte den weiten Blick über die Kölner Bucht. Die Einrichtung machte einen verspielten Eindruck, helle Möbel, bunte Bezüge auf Sesseln und einem kleinen zweisitzigen Sofa. Wohl das Übliche in den kleinen Wohnungen im Haus im Kirchberg. Ruth gefiel dieser erste Eindruck und sie gratulierte Hanne zu ihrem Geschmack. Was der Stimmung zugutekam. Hanne freute sich sichtlich, dass sie Anschluss an eine Gruppe bekam, sie war noch nicht lange im Haus und hatte nicht allzu viele Kontakte, wie sie klagte.
„Du warst doch sicher erstaunt, gleich zwei frühere Kollegen zu treffen“, fragte Ruth und Hanne meinte, dass das nicht so erstaunlich sei, weil es nur wenige ansprechende Senioren-Wohnanlagen in der Gegend gibt.
„Hast du gehört, dass über den Tod von Niemanns Frau gemunkelt wird? Es ist von Sterbehilfe die Rede.“ Die Bemerkung war Ruth herausgerutscht, als sie sich in einem der Sessel niederließ. Aber es tat ihr nicht leid.
„Ach, hast du auch davon gehört?“, antwortete Hanne und begab sich in die kleine Küche, um den Kaffee aufzugießen. Ruth sah hinter ihr her und dachte – woher mag sie es haben? Es dauerte eine ganze Weile, ehe Hanne mit dem Kaffee kam, die Tassen aus der Vitrine nahm und eingoss.
„Woher mag die Idee kommen?“
„Plötzlich und unerwartet, so steht es in der Todesanzeige“, antwortete Ruth.
„Sie war seit langem krank. Warum die Söhne diese Formulierung für die Todesanzeige gewählt haben, weiß ich nicht.“ Pause. „Sie haben Kurt alle Formalitäten abgenommen, er war doch sehr erschüttert.“
„Kurt?“
„Ja, Kurt. Wir duzen uns seit langem. Wir sprechen hin und wieder miteinander.“
„Und was meint er?“
„Er hält es für möglich, sie hatte wohl davon gesprochen, ihre Nichte um Hilfe zu bitten.“
„Frau Doktor Weise?“
„Ja.“
Ruth überlegte, ob sie über ihre eigene Unterhaltung mit der Ärztin sprechen sollte, ließ es dann. Man erfuhr mehr, wenn man zuhörte, als wenn man selber redete. Das wusste sie aus ihrer Zeit als Finanzbeamtin sehr gut. Aber Hanne hatte diese Erfahrung ebenfalls und so wurde nichts aus einer Unterhaltung über den Tod von Frau Niemann.
Eher über das Leben der Dame. Hanne erzählte mit einer gewissen Gehässigkeit von einem sehr losen Leben der beiden Damen, Ehefrau und Schwester. Von der Inanspruchnahme eines Begleitservices „gepflegter älterer Herren“ war die Rede. Oper, Restaurantbesuche und so weiter. Offene Ehe, dachte Ruth bei sich und fragte sich, was wohl mit „und so weiter“ gemeint war.

Beim Mittagessen konnte Ruth ihrer Freundin Eveline die Neuigkeit mitteilen, dass Hanne Hauser offen zugab, dass sie mit Niemann Kontakt hatte. Was die Tote betraf, so ließ sie es bei der Bemerkung, dass sie wohl ein „loses“ Leben geführt habe, zusammen mit der Schwägerin.
„Das habe ich mir doch gedacht“, triumphierte Eveline. Und sie holte ihren Spruch wieder hervor: Alte Liebe rostet nicht. Er hat sich auf diese Weise schadlos gehalten. Und: „Der Witwer verdächtigt also auch die Nichte!“ Eveline obenauf.
„Das hat Hanne nicht gesagt und ich kann mich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Warum sollte sie? Und warum unternimmt der Witwer nichts? Na, ja, der Tod kommt ihm zugute, er erbt.“ Ruth schnippelte an ihrem Bratenstück herum, als müsste sie einem Problem zu Leibe rücken. Sie sah, dass Eveline sie aufmerksam beobachtete.
„Als Alternative kommt nur Mord in Frage.“ Ja.

Schweigend ging das Mittagessen zu Ende. Ruth rüstete sich für ihre Fahrt zum Computer-Club. Und auf der ganzen Fahrt gab es nur einen Gedanken: JA.

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Heimliches Gift Kapitel 3


„Guten Abend, Frau Bergmann, Wunderlich hier. Ich würde gern Sie und Eveline morgen Abend zum Wildessen einladen.“
„Guten Abend, Herr Wunderlich, das ist sehr nett von Ihnen, weiß Eveline Bescheid?“
„Ja, und sie hat zugesagt.“
„Da werde ich nicht nein sagen können. Zumal zu einem so erfreulichen Anlass.“ Ruth wusste, dass mal wieder ein Schlemmerabend im Haus am Kirchberg anstand. Der Jahreszeit entsprechend: Wild mit allem Drum und Dran.
„Also dann morgen um sechs Uhr, einverstanden? Ich reserviere  einen Tisch.“
„Schön, ich freu‘ mich.“ Das tat Ruth tatsächlich, sie mochte diesen Herrn Wunderlich, der bekannt war als der Feinschmecker des Hauses. Und sie kannte ihn inzwischen ganz gut. Außerdem – irgendwo mussten sie mit ihren Nachforschungen anfangen. Hans-Jürgen Wunderlich kannte viele Leute im Haus, er wohnte seit einer Reihe von Jahren hier. War einer aus der näheren Umgebung, aus Solingen. Hatte da eine Firma gehabt, die er mit gutem Gewinn verkauft hatte. Er lebte ein sorgenfreies Leben, wie viele hier im Haus am Kirchberg. Viele, nicht alle, dachte Ruth. Manch eine Witwe konnte sich gerade ein Ein-Zimmer-Apartment leisten. Teuer genug. Wer nicht berufstätig gewesen war, wie sie selbst, sondern Kinder großgezogen hatte, musste mit einer Witwenrente auskommen, nur sechzig Prozent von der Rente des Ehemannes. Viele allerdings hatten ein Haus bewohnt, das verkauft worden war, bevor man hier einzog. Muss schwer gewesen sein, dachte Ruth, von einem Haus in eine Wohnung zu ziehen, die nicht viel größer war als das bisherige Wohnzimmer. Was musste man alles zurücklassen.



Am Samstagmorgen waren Einkäufe im nahen Supermarkt zu machen. War zurzeit nicht so erfreulich, die bauten mal wieder um. Was dazu führte, dass alle Lebensmittel an andere Plätze gepackt wurden, da nützte Ruth der Einkaufszettel gar nichts, er war noch auf die alten Laufwege abgestimmt. Hoffentlich vergaß sie nicht wieder etwas Wichtiges. Kürzlich hatte sie den ganzen Sonntag über nicht ein Stückchen Schokolade im Haus gehabt. Jedes Versteck hatte sie abgesucht, nichts. Und Eveline um etwas Süßes zu bitten, das ging gar nicht. Sie hatte neulich ihr gegenüber volltönend behauptet, sie äße kaum noch Süßes, hätte es sich abgewöhnt, wie andere das Rauchen. Und wie andere den Alkohol hatte sie gedacht, es natürlich nicht ausgesprochen. Ein Glück, dass Eveline es bisher geschafft hatte, trocken zu bleiben.

Ruth packte ihre Einkäufe in den Kofferraum ihres Autos, ihres halben Daimler, wie sie ihn nannte: ein Smart. Allerdings ein Cabrio. Das war schon immer ihr Traum gewesen, bei schönem Wetter offen fahren, die Landschaft genießen. Zurzeit fuhr sie meistens nur den kurzen Weg aus der Tiefgarage des Hauses am Kirchberg zur Tiefgarage des Supermarktes und zurück. Wenn das mal jemandem auffiel, hatte sie eine Entschuldigung parat: Ich kann nicht mehr so viel tragen, mein Rücken, Sie verstehen? Tatsächlich trug sie ihre Einkäufe in zwei Etappen nach oben, sie konnte wirklich nicht mehr so schwer tragen. Auf dem Weg zum Aufzug überlegte Ruth, ob sie nicht doch einmal die viel gepriesene Osteopathin unten am Markt aufsuchen sollte. Man erzählte Wunderdinge von ihren Erfolgen. Ein Orthopäde würde nur sagen „Verschleiß“, vielleicht „in ihrem Alter“ anfügen. Wer wollte das schon hören? Als sie zum ersten Mal von der Osteopathie hörte, wusste sie nicht, was sie sich darunter vorstellen sollte. Als sie bei Google las, dass die Methode die Selbstheilungskräfte weckt, wurde sie aufmerksam. Schließlich sprach auch die Schulmedizin davon, dass man diese Kräfte wecken könnte. Na, ja, wenn der Rücken mal wieder zu rebellisch wird, dann weiß ich, was ich machen kann.

Kurz vor sechs Uhr. „Hallo, bist du fertig?“ Eveline rief an.
„Fast. Ist das nicht eigentlich eine merkwürdige Zeit für ein Abendessen, sechs Uhr? Andererseits – soll ja gesund sein, so früh zu essen.“
„Ja, soll es. Bring Appetit mit und gute Laune.“ Aufgelegt.
Was soll das denn heißen, fragte sich Ruth. Hatte sie nicht – fast – immer gute Laune? Zugegeben, es war hin und wieder vorgekommen, dass sie bei gemeinsamen Essen zu dritt leicht verstimmt gewesen war. Kleine Anfälle von Eifersucht. Früher hatte sie immer mal mit Wunderlich außer dem Haus Schlemmermahlzeiten genossen. Seit Eveline hier wohnte, hatte Wunderlich sich eher für sie interessiert und war mit ihr ausgegangen. Quatsch Eifersucht. Sie war mit ihm zum Essen gegangen, um etwas über bestimmte Hausbewohner zu erfahren. Na, ja, so ganz stimmte das nicht ...
Quatsch. Ruth zog eine Bluse an, eine Jacke darüber, kämmte ihre Haare und machte sich auf den Weg zum Speisesaal. Sechs Uhr.

Eveline und Wunderlich saßen schon da, natürlich in der Saalmitte, und unterhielten sich lebhaft. Eveline begleitete ihre Worte mit lebhaften Gesten, ihr rechter Zeigefinger stakste auf dem Tisch herum oder fuhr bestätigend durch die Luft. Was wollte sie ihm wohl erklären? Wunderlich hatte seinen Kopf auf den rechten Arm gestützt, ganz Bewunderung. Mit Recht, sagte sich Ruth, denn Eveline sah „entzückend“ aus, so hatte er mal gesagt. In Samt und Seide, buchstäblich, eine dezent gemusterte Seidenbluse und ein dunkles Samtjackett. Ruth sah es verhältnismäßig neidlos, so war das nun mal. Schlanke Frauen sahen immer besser aus als – weniger schlanke.
Beim Näherkommen fragte sie sich mal wieder: Waren die Haarstoppeln auf Wunderlichs Kopf blond oder grau? Hatte er eigentlich eher blaue oder graue Augen? Egal. Sie musste an ihre Überlegungen von eben denken und rollte ganz langsam als drittes Rad am Wagen auf die beiden zu.
Wunderlich sprang auf, tat begeistert – oder war er es wirklich? Ihr Selbstbewusstsein war sich nicht sicher.
„Ach, da ist sie ja, unsere Freundin Ruth.“ Unsere Freundin Ruth …
Ruth wählte den gleichen lockeren Ton, umarmte Eveline, gab Wunderlich die Hand. Er küsste sie – die Hand. Formvollendet.
Sie nahm neben Eveline Platz und griff nach der Speisekarte. Die beiden hatten anscheinend bereits gewählt, sie plauderten weiter. Drittes Rad.
Ruth war der Meinung, dass Hirsch, nämlich Hirschkalb, zarter schmeckte als Reh und wollte entsprechend wählen.
„Nehmt ihr eine Suppe vorher?“, fragte sie. Wunderlich fühlte sich aufgefordert, sie zu beraten. Eveline hörte schweigend zu. Ruth wählte die Consommé vom Fasan und Hirschkalbfilet mit Rosenkohl. Außer diesem Gericht hätte es nur Rehrücken mit den üblichen Obstgarnierungen gegeben, eine Beratung war also eigentlich überflüssig. Ruth dankte trotzdem, schließlich wollte sie was von ihm. Später. Wein gab es nicht zum Essen, daran war inzwischen auch Wunderlich gewöhnt. Und war Wasser nicht viel gesünder?

„Ich hatte Hans-Jürgen eben gefragt, ob er das Ehepaar Niemann kennt“, wandte sich Eveline an Ruth. Die sah von ihr zu ihm und wunderte sich erst einmal, dass Eveline Wunderlich anscheinend duzte. Was tat sich da hinter ihrem Rücken?
„Schön, dass es mal wieder ein jahreszeitliches Abendessen gibt, ich habe großen Appetit und habe mich den ganzen Nachmittag auf den Abend gefreut“, sagte sie. Wunderlich ließ sich nicht ablenken, grinste breit, sah Ruth an und meinte: “Schon wieder ein ungeklärter Todesfall, oder?“ Kurzes Schweigen, dadurch überbrückt, dass die Getränke gebracht wurden, Wasser mit und Wasser mit wenig Kohlensäure.
„Ich bin der Meinung, dass es sich um einen Fall von Sterbehilfe handelt.“ Eveline führte das Gespräch fort.
„Möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, die arme Gertrud hat sehr gelitten. Ich kannte die beiden bereits in meiner Solinger Zeit. Sie haben eine Nichte, die Ärztin ist …“
„Und eine Schwester, die Apothekerin ist“, ergänzte Eveline.
Die Fakten sind auf dem Tisch, dachte Ruth und wollte erst einmal abwarten, was Wunderlich dazu sagen würde.
„Man muss sehr vorsichtig sein mit Andeutungen“, sagte er und sah aus, als wüsste er mehr.
„Es hat da ein neues Gesetz zur Sterbehilfe gegeben und einen neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch.“ Ruth hatte sich inzwischen kundig gemacht. Sie überlegte, ob sie weiterreden sollte. „Für Ärzte hat sich nichts geändert. Unangenehme Folgen.“
„Dann war es eben die Apothekerin.“ Wenn Eveline sich einmal in etwas verbissen hatte …
„Ob geschäftsmäßiges Handeln auch auf ehemalige Apothekerinnen zutrifft, das ist die Frage.“ Ruth hatte sich wirklich schlaugemacht.
Die Suppe kam und Ruth schlug vor, sich den schönen Abend nicht mit einem so traurigen Thema zu verderben.

Nach der Suppe griff Wunderlich den Fall Niemann wieder auf, unter einem anderen Aspekt.
„Ich habe übrigens den Niemann hin und wieder mit einer Dame hier aus dem Haus gesehen. Sie schienen sich gut zu kennen.“
Ruth sah auf. „Das könnte Hanne Hauser gewesen sein, eine frühere Kollegin von mir und auch von Herrn Niemann.“
„Und ich dachte, ich hätte ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Er war nie ein Kind von Traurigkeit in dieser Hinsicht. Gertrud übrigens auch nicht.“
Männer sind genau solche Waschweiber wie Frauen, dachte Ruth. Fazit: Der Fall Niemann schien in mehrfacher Hinsicht interessant zu sein. Wieso fiel ihr jetzt der weinende Nachbar ein? Ruth hätte von der Trauerfeier berichten können, bei der sie die ganze Familie kennengelernt hatte, aber die kannte Wunderlich wahrscheinlich aus der Solinger Vergangenheit. Und tatsächlich, obwohl ein gut gefüllter Teller vor ihm stand, legte er das Besteck beiseite, wischte die Lippen gründlich ab, trank einen Schluck Wasser, hielt das Glas bedeutungsvoll in der Hand – und begann über die Söhne Niemann zu sprechen. Nur Gutes. Obwohl – so endete seine Geschichte – es doch seltsam sei, wie unterschiedlich erfolgreich Söhne mit der gleichen guten Ausbildung geraten können. Zur Trauerfeier war er nicht gekommen, weil er ein paar Tage nicht im Haus war.
Ruth und Eveline aßen weiter, Frauen können mehr als eine Sache gleichzeitig. Sie interessierten sich natürlich für die Familie – alles Verdächtige, wenn man die Sache ernst nahm. Die Söhne? Welchen Grund hätten sie haben sollen, die eigene Mutter zu vergiften? Schade, dass man nichts über den Inhalt des Testaments wusste, das ging wohl beiden Damen durch den Kopf.
„Frau Niemann soll noch ein neues Testament erlassen haben. Wurde da jemand bestraft?“, fragte Ruth zwischen zwei Happen Hirschkalb. Es sollte so beiläufig wie möglich klingen. Entbehrte jeder Wahrheit, aber das konnte Wunderlich ja nicht wissen.
„Möglich ist alles.“ Auch Wunderlich hatte inzwischen seine Mahlzeit fortgesetzt, war wohl nicht mehr in der Laune, aus der Schule zu plaudern, wie seine Miene ausdrückte. Fand er nicht genug Beachtung? Oder wusste er nichts vom Testament? Das war ein Schuss in den Ofen. Komische Redensart, dachte Ruth.

„Gibt’s eigentlich auch Nachtisch?“, fragte Eveline, als ginge sie die ganze Sache nichts an.
„Aber sicher“, sagte Wunderlich, „sie haben sich große Mühe gegeben. Mascarpone mit Weintrauben, passend zur Jahreszeit auf einem Bett von …“ Er war anscheinend froh, dass er wieder etwas zur Unterhaltung beitragen konnte.
Nach dem „fabelhaften“ Nachtisch und dem Espresso Macchiato war das traurige Thema Sterbehilfe vergessen. Zumindest Ruth war bewusstgeworden, wie nahe sie doch selbst diesem Thema waren.

Montag, 23. Oktober 2017

Heimliches Gift Kapitel 2 bis zum Ende

Inzwischen formatiert

„Tja, Eveline, auf diese Mordermittlung werden wir wohl verzichten müssen. Da werden wir nichts herausfinden können.“ Ruth hielt den Telefonhörer etwas weiter vom Ohr weg, sie konnte sich denken, was jetzt kommen musste.
„Das sehe ich nicht ein! Da bleiben wir dran! Weißt du was Neues? Raus damit. Komm sofort her!“
„Ich komm‘ ja schon. Bis gleich.“ Ruth zog noch eben eine Strickjacke über und fuhr mit dem Aufzug von der fünften auf die dritte Etage, Treppensteigen war zurzeit nicht so angesagt, ihr Rücken schmerzte mal wieder.
„Komm‘ rein. Du weißt doch was? Mit wem hast du gesprochen? Nun red‘ doch.“ Ruth ließ sich von Eveline ins Wohnzimmer bugsieren und fiel auf einen der Sessel.
„Eins nach dem anderen, liebe Eveline. Ich habe eben mit der Ärztin telefoniert; sie hat mich angerufen und darum gebeten, mit niemanden über ihre Vermutungen zu sprechen.“ Ruth verzog ihr Gesicht, sie hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen.
„Das waren Ablenkungsmanöver, diese Mordvermutungen. Sie will von sich ablenken. Sie war’s.“ Oh, je, Eveline beharrt auf ihrer Ursprungsidee.
„Nein, nein, das glaube ich nicht. Warum hätte Frau Niemann ihr Leben beenden sollen, obwohl sie diese Pläne hatte.“
„Diese Pläne?“, fragte Eveline.
„Na, ja, die Söhne sprechen – das Testament ändern. Nüchtern betrachtet ist das Einzige, was wir tatsächlich wissen, die Tatsache, dass die Söhne herbeigerufen wurden. Wozu, das wissen wir nicht.“
„Ja, stimmt. Wer bringt sich um, wenn die Kinder erwartet werden. Vielleicht wollte die Nichte diesen Besuch verhindern?“ Eveline legte ihr Köpfchen schief und Ruth hatte das Gefühl, dass sie sie herausfordern wollte.
„Ach, Eveline, was soll denn das? Gestern warst du noch der Meinung, dass Frau Niemann „einfach so“ gestorben ist.“
„Das war gestern, ab heute ermitteln wir in alle Richtungen.“ Jetzt hatte Eveline sich aufgerichtet und sah tatsächlich herausfordernd aus. Ruth konnte nicht anders und fing an zu lachen. Ein Leben ohne Eveline wäre langweilig, dachte sie.
„Zurück zu den Fakten, Frau Hauptkommissarin.“ Ruth machte einen bei ihnen üblichen Scherz, wurde dann wieder ernst. „Dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, ist nichts Besonderes aufgefallen. Nicht alle Toten sehen friedlich aus; ich glaube, das sagt man so, um die Angehörigen zu beruhigen“
„Hat sie den Totenschein nicht selbst ausgestellt?“
„Nein, sie hat einen Kollegen gebeten. Wollte wohl verhindern, verdächtigt zu werden, so wie jetzt von dir.“ Das musste sie sagen. Eveline nahm es anscheinend nicht übel, ihr Gesichtsausdruck ließ eher darauf schließen, dass sie bei ihrem Verdacht gegen die Ärztin blieb.

Die Gespräche am Mittagstisch waren betont harmlos: das Essen, das Wetter, der Nachmittag im Computer-Club, Evelines bevorstehender Besuch bei der Kosmetikerin.

„Man sollte öfter zur Kosmetikerin gehen – sehr aufschlussreich.“ Eveline am Telefon, kaum, dass Ruth nach ihrer Rückkehr aus dem Computer-Club ihre Wohnung betreten hatte.
„Lass mich mal erst zur Ruhe kommen. Ich habe einen anstrengenden Nachmittag hinter mir“, sagte Ruth etwas unwirsch. Sie kam sich vor, wie der Ehemann, der sich bei seiner Rückkehr aus der feindlichen Welt von seiner Ehefrau belästigt fühlt. Aber das war keine lästige Ehefrau, das war Eveline und die ließ sich nicht leicht abschütteln, das wusste Ruth. Sie sank also im Mantel, der immer noch nass war vom Regen in Gerresheim, in einen Sessel.
„So, bitte, ich höre.“
„Du ahmst jetzt schon die Kommissare aus dem Fernsehen nach.“
„Was? Wie? Was meinst du?“
„Na, die sagen immer kurz und knapp ‚ich höre‘.“
„Ja, stimmt. Und was gibt es Neues?“
„Sterbehilfe.“ Wieder zurück auf Anfang.
„Aha.“ Beinahe hätte Ruth gefragt „wer mit wem“, aber das schien ihr doch nicht passend – obwohl, Eveline lachte gern.
„Das ganze Haus spricht davon, sagt die Kosmetikerin.“
„Es geht um Frau Niemann, nehme ich an.“
„Um wen sonst?“, fragte Eveline schnippisch.
„Und wer?“
„Die Schwägerin!“
„Schwägerin? Kennen wir die?“
„Ich nicht.“ Pause. „Die Schwester von Niemann!“
„Ach ja. Die Ärztin sprach von ihr, Stichwort Homöopathie.“
„Die hat ein Motiv!“
„Und welches?“
„Ihrem Bruder zuliebe.“
„Versteht ich nicht.“
„Der sollte enterbt werden.“
„Ja, klingt logisch. Aber das nennt man dann nicht Sterbehilfe – sondern Mord.“
Eveline schwieg. Eine ganze Weile. Dann kam eine kleine Stimme durchs Telefon: „Stimmt.“
„Das hättest du der Kosmetikerin doch gleich sagen können, als sie vom Motiv sprach.“ Pause.
„Hat sie gar nicht. Das hab‘ ich eben dazu erfunden.“
„Eveline.“
„Ja, ich geb’s zu, das sind Äpfel und Birnen.“ Aufgelegt. Böse?

Eigentlich, eigentlich hatte Eveline doch Recht. Wie wäre die Version: Mord unter dem Deckmantel von Sterbehilfe? Dann müsste man tatsächlich nach einem Motiv suchen. Wer kam in Frage und hatte ein Motiv? Frau Doktor Weise, die Nichte, kam in Betracht, hatte jedoch kein Motiv. Die Schwägerin kam in Betracht, sie hatte Zugang zu Frau Niemann und könnte ein Motiv haben, Bruderliebe. Also musste Ruth bei Eveline Abbitte tun. Ihr Ton war nicht gerade freundschaftlich gewesen. Nein, jetzt war sie müde, es reichte gerade noch dazu, sich ein einfaches Abendessen zusammenzustellen, Brot, Butter, Schinken, Käse. Eine kleine Flasche Budweiser. Appetitanregend war anders. Dann in den bequemen Sessel und gehofft, dass bei Arte mal wieder eine der interessanten Serien anfing. Ein Kessel Buntes an menschlichen Niederträchtigkeiten, mal in der Familie, mal in der Politik.

Beim Mittagessen am Freitag mit viel Salat und leckerem Fisch unterbrach Ruth das Schweigen, mit dem Eveline sie belegte.
„Wir müssen uns noch einmal unterhalten, meine liebe Eveline.“ So versuchte sie zu säuseln. Eveline blickte stumm auf ihren Teller.
„Ich habe nachgedacht.“
„Ach.“ Retourkutsche – das „Ach“ kam häufig von Ruth.
„Vielleicht haben wir doch einen Fall.“ Oh, Gott, was hatte sie denn da gesagt.
„Ach.“
„Eveline, nun sei doch nicht so abweisend. Du hast doch bestimmt ein paar neue Gedanken.“ Vielleicht lockt sie das aus der Reserve.
„Ja.“
„Heute Nachmittag um drei in der Cafeteria?“
„Um halb vier bei mir.“

Ruth holte eines der kleinen Bücher mit hübschen Bildern und hübschen Gedichten aus ihrem Fundus. Sie musste die Stimmung aufhellen und trat nun ihren Weg nach Canossa an. Innerlich grinste sie dann doch über diesen Vergleich. König Heinrich hatte seinen Gang nach Canossa mitten im tiefsten Winter in den verschneiten Alpen angetreten und nicht auf dem Weg zu einem Freund, sondern zu seinem schlimmsten Feind, dem Papst. Grinsend stand sie also vor Evelines Korridortür und klingelte. Diesem Grinsen konnte Eveline wohl nicht widerstehen, sie schloss Ruth in ihre Arme und alles war gut. Den Vergleich mit Canossa wies sie weit von sich: Seh‘ ich etwa aus wie der Papst?
Eveline musste schon vorher versöhnlich gestimmt gewesen sein. Ruth sah es daran, dass der Tisch vorm Fenster liebevoll gedeckt war. Eveline hatte sogar Kuchen aus der Cafeteria geholt, wollte wohl ihr eigensinniges Beharren auf einer von ihr vorgeschlagenen Zeit und einem anderen Ort vergessen machen. Vergeben und vergessen. Über das kleine Geschenk freute sie sich und zitierte gleich eines der witzigen Gedichte.
„Weißt du, was mir eingefallen ist? Diese Schwägerin war Apothekerin. Die Nichte hat es nebenbei erwähnt.“
„Großartig!“ Eveline schwang ihren Kaffeelöffel durch die Luft. Ruth hätte einen anderen Ausdruck gewählt, sei’s drum. Es war eine Spur.
„Sie hat Frau Niemann mit homöopathischen Mitteln versorgt, aber daran stirbt man nicht, sagt die Ärztin.“
„Mag sein, aber sie ist tot.“
„Zugegeben, sie kann ihr Tabletten untergeschoben haben, die arme Frau musste wahrscheinlich ständig etwas einnehmen.“
„Wir müssen unbedingt etwas über diese Schwägerin herausfinden. Die Kosmetikerin hat ihren Namen genannt, leider habe ich ihn nicht behalten. Bucher oder Burger, jedenfalls etwas mit U. Mist.“
„Bucher, ja, Bucher, ich habe doch vorigen Samstag noch neben ihr gesessen, bei der Trauerfeier, jetzt erinnere ich mich.“ Ruth wollte Eveline eigentlich zustimmen, aber sie dachte, dass man es dieser Frau Bucher wohl kaum ansehen würde, ob sie Giftpillen verteilte. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schwieg.
Eveline dagegen rutschte auf ihrem Sessel nach vorn und meinte: „Für die Version Sterbehilfe haben wir damit zwei Personen, die es gewesen sein könnten: die Ärztin und die Schwägerin.“
Ruth seufzte und schwieg weiter. Wie hätte die Schwägerin der Kranken die Tabletten verabreichen können? Ob nicht vielleicht doch die Homöopathie-Tropfen die schuldigen waren? Ruth wäre die Schwägerin als Täterin lieber als die freundliche Ärztin.
„Wie kann die Schwägerin es fertiggebracht haben, dass Frau Niemann die tödlichen Tabletten einnahm?“, fragte sie also.
„Sie kann sie in die normale Packung geschmuggelt haben.“ Evelines Idee.
„Ob sie wohl wusste, wie viel Tabletten erforderlich waren?“
„Na, als Apothekerin doch sicher.“
„Es kann natürlich auch etwas in einem Fläschchen gewesen sein.“  Ruth war eingefallen, dass die Ärztin von einem Fläschchen und einer Tablettenpackung auf dem Nachttisch gesprochen hatte.
„Wie mag sie das Gift wieder aus der Wohnung herausbekommen haben?“ 
Der Ehemann hatte natürlich längst aufgeräumt und beides in den Müll befördert.
„Das wird ein hartes Stück Arbeit“, befand Eveline.
Wenn die Überlegungen mal von Sterbehilfe ausgehen und mal von Mord, wie kommt man auf diese Weise zu Ergebnissen?
Kapitel 3 folgt

Dienstag, 17. Oktober 2017

Heimliches Gift Kapitel 2


Kapitel 2 Anfang

Heute Mittag gab es keine Hinweise darauf, dass ein Arztbesuch fällig sein könnte. Ruth und Eveline saßen an ihrem Tisch und unterhielten sich – übers Wetter. Ruth hatte das Gefühl, dass ihre liebe Eveline auf der Lauer lag. Sie wusste, dass gestern Abend der Geschichtsverein getagt hatte und hoffte wohl auf Neuigkeiten. Ruth blieb stark. Ihre Meinung war nach wie vor, dass man über Sterbehilfe nicht plaudern sollte. Das Thema war ernst und es konnte Folgen haben, jemanden zu bezichtigen.

Das hielt sie nicht davon ab, während ihrer Fahrt zum Computer-Club darüber nachzudenken. Das wäre doch ein Thema, über das im Internet viel zu erfahren ist und ihre „Schüler“ und „Schülerinnen“ würden sich gewiss dafür interessieren.
Ruth kam regelmäßig am Dienstag und am Donnerstag jeder Woche, in den Computer-Club in Gerresheim. Immer wieder kamen neue Interessenten, die sich mit dem Umgang am Computer vertraut machen wollten. Das hatte ihr im Haus am Kirchberg den Ruf einer Computerexpertin eingetragen. Da war etwas dran, denn sie hatte bereits während ihrer Dienstzeit mit einem PC arbeiten müssen. Seit neun Jahren war sie nun schon „in Pension“. Seitdem fuhr sie in diesen Club in Gerresheim. Zunächst aus der Innenstadt von Düsseldorf, wo sie gewohnt hatte, nun aus Erkrath. Der Computer-Club war in einem früheren Ladenlokal am Rand des Gerricusplatzes eingerichtet worden.
Ruth fand sogar einen Parkplatz nicht weit vom Club, gleich vor der Basilika Sankt Margareta – der Stolz der Vorstadtgemeinde Gerresheim. Und sozusagen der Beweis dafür, dass Gerresheim älter ist als Düsseldorf, zu dem es seit fast hundert Jahren als Stadtteil gehörte.
Das Thema Sterbehilfe wurde dankbar aufgegriffen und es entspann sich eine wilde Suche mit anschließender ebenso wilder Diskussion. Es hatte wieder eine Änderung der Rechtslage gegeben,

Nach anregenden zwei Stunden wollte Ruth nach Hause, fühlte sich wieder einmal von der offenen Kirchentür eingeladen. Sie hatte die Kirche lieben gelernt, sie war wie gewöhnlich leer um diese Zeit. Ruth setzte sich in die letzte Bankreihe, um in Ruhe nachdenken zu können. Sie überlegte, wie sie sich verhalten hätte, wenn Klaus, ihr verstorbener Mann, oder ihre Mutter sehr krank gewesen wären und sie um Hilfe gebeten hätten. Sie war bisher immer zu dem Schluss gekommen, dass sie sich geweigert hätte, auch wenn die Krankheit weit fortgeschritten gewesen wäre. Gott sei Dank hatte sie sich nie entscheiden müssen, beide waren friedlich eingeschlafen. Zuerst Klaus, der viele Jahre älter gewesen war als sie, dann ihre Mutter. Von da an war sie ganz allein.

„Weichst du mir aus?“, fragte Eveline recht provozierend am Telefon. Ruth hatte es sich kaum bequem gemacht in ihrem Lieblingssessel. Sie seufzte einmal tonlos und fasste einen Entschluss.
„Ich weiche nicht aus – ich geh‘ morgen Nachmittag in die Sprechstunde.“ Ihr Ton war heftiger als sonst gegenüber Eveline. Sie fasste ihre Entschlüsse eigentlich lieber freiwillig. Aber sie wusste – Eveline würde keine Ruhe geben.
„Ich weiß, wie du etwas erfahren kannst.“ Pause. Soll wohl Spannung erzeugen.
„Und wie?“, stellte sie die erwartete Frage.
„Frag nach Fingerhut.“ Wie bitte?
„Nach Fingerhut, aha.“ Irgendwo regte sich eine Erinnerung in Ruths Gehirn. Blaue Blumen – sehr giftig – Digitalis – Herzmedikamente. Aha.
„Du hast Recht, Eveline, das bringt mich zum Thema: Tod durch Vergiften. Und nun wünsche ich dir eine gute Nacht. Träum was Schönes.“



„Guten Tag, Schwester Jana, ist Frau Doktor Weise schon da?“ Ruth war in die unteren Räume des Hauses am Kirchberg gefahren, in den Bereich, der sich Ambulante Pflege nannte, hier sollte das Sprechzimmer Weise sein.
„Nein, leider noch nicht, sie hat sicher noch etwas in der Praxis zu erledigen.“
„Bisher bin ich dorthin gegangen, habe erst vor kurzem von dieser Sprechstunde gehört. Ist doch sehr praktisch für uns.“
„Ja, stimmt. Bis vor ein paar Monaten kam sie ins Haus und besuchte die einzelnen Patienten. Das war ziemlich zeitaufwändig und sie konnte nicht alle aufsuchen. Jetzt kommen sie hierher und besprechen ihre Wehwehchen.“ Schwester Jana lächelte.
„Meine Wehwehchen halten sich in Grenzen, ich brauche nur ein Rezept.“
„Kein Problem, das kann ich Ihnen ausdrucken und die Frau Doktor muss es nur noch unterschreiben. Das geht ganz schnell.“ Verdammt.
„Also, ein paar Worte muss ich doch mit ihr wechseln, einfach nur weiter wie bisher, das ist leichtsinnig.“ Mehr fiel Ruth nicht ein und sie verschwand erst einmal, damit Jana nicht doch das Heft in die Hand nahm und sie vom Behandlungszimmer fernhielt.
Sie blieb im Gang stehen, der zurück zum Aufzug führte, und sah hinaus in den Garten. Nein, eigentlich kein Garten, das war eine Wiese. Wie immer kurz gemäht, ohne irgendein Blümchen. Blumen gab‘s erst am Rand, Herbstblumen, mochten sie noch so strahlend gelb leuchten.

„Hallo, warten Sie auf mich?“ Eine helle, freundliche Stimme, eine schlanke, jüngere Frau, halb den Arztkittel übergestreift. Die halblangen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengehalten, ihre blauen Augen sahen Ruth prüfend an. „Kennen wir uns nicht? Waren Sie nicht am Samstag bei der Feier für meine Tante?“
„Ja, das war ich, ich bin Frau Bergmann, ich komme sonst in die Praxis am Markt.“
„Wollen Sie zu mir?“ Ja, Ruth wollte und folgte der Ärztin dicht auf, damit Schwester Jana nicht dazwischen gehen konnte und sie abdrängte. Sie musste da hinein.
„Ich muss erstmal verschnaufen“, sagte die Ärztin und ließ sich in ihren Bürostuhl fallen. Das Übliche, dachte Ruth und sah sich um: Schreibtisch, Computer – Bürobetrieb. In ihrer Kindheit hatten Arztpraxen ganz anders ausgesehen. Viel beeindruckender. An der Wand die „Bahre“, wie sie das schmale Gestell nannte, auf dem wohl Untersuchungen stattfanden.
Ruth hatte zwar darüber nachgedacht, wie sie das Gespräch beginnen könnte, jetzt fiel ihr nichts ein. Blöd.
„Eine schlimme Sache, das mit meiner Tante.“ Gut.
„Ja, sie soll so plötzlich gestorben sein, ihre Söhne waren entsetzt. Sie wollte wohl noch etwas mit ihnen besprechen und dann …“
„Ja, sie wollte ihr Testament ändern.“ Donnerwetter.
Anscheinend ging Frau Doktor Weise davon aus, dass Ruth eine Freundin der Familie war. Ruth wiegte nur den Kopf, jetzt nichts Falsches sagen.
„Irgendjemand wollte das verhindern.“ Die Ärztin klang bedrückt, Ruth glaubte, eine Träne in ihrem Auge zu sehen. Immer noch wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Die Aufregung nahm ihr die Stimme. Dann begann sie stotternd: „Aber das könnte doch heißen, das würde doch heißen, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.“
„Ich fürchte es.“ Nun saßen beide schweigend da.
Nach einer Pause begann die Ärztin wieder zu sprechen. „Meine Tante hatte schon länger davon gesprochen, dass sie nicht mehr leben wolle. Ihre Herzkrankheit machte ihr sehr zu schaffen. Ihr ganzer Körper war angegriffen, sie bekam so schlecht Luft. Sie tat mir so leid. Aber ich durfte ihr nicht helfen. Und wer weiß schon, wie ernstgemeint das Verlangen ist. Die Welt sieht Tag für Tag anders aus. “
Ruth fasste sich ein Herz und sagte: „Wenn Sie ihr nicht geholfen haben, wer dann?“
„Darüber habe ich nachgedacht, habe allerdings keine Ahnung, wem sie sich anvertraut hat. Ihrer Schwägerin vielleicht, die war oft bei ihr. Versorgte sie mit homöopathischen Mitteln. Aber der Zeitpunkt! Weil sie ihr Testament ändern wollte, hätte sie noch ein paar Tage durchgehalten, bis ihre Söhne da waren. Die sollten unterschiedlich bedacht werden. Auch ich sollte einen Teil erhalten.“ Sie schwieg und schluckte und schluchzte fast. Das Wort Mord stand im Raum.
„Sie ist sicher nicht friedlich eingeschlafen, habe ich gedacht, als ich sie fand. Andererseits sehen auch die Menschen, die Angst vor dem Tod haben, nicht friedlich aus. Der Todeskampf, Sie verstehen.“

Ruth stand auf ihrem Balkon und blickte in die Ferne. Ein leichter Nebel oder Dunst lag über der Kölner Bucht. Die beiden Kraftwerke waren nicht zu erkennen, nur ihre Abgaswolken zogen über den Horizont. Dass Neurath Deutschlands größtes Kohlekraftwerk ist, hatte sie inzwischen gelesen, ebenso, dass die Wolken, die bei klarem Wetter so strahlend weiß in den Himmel stiegen, große Mengen an Feinstaub enthalten.
Normalerweise genoss Ruth den Blick in die Ferne; ihre Augen wanderten von den Höhen der Ville, dem langgestreckten Ausläufer der Eifel, über die kleinen Städtchen und Dörfer, deren Kirchtürme sie inzwischen kannte. Sie wusste auch, zu wem die Schornsteine gehörten: Bayer Dormagen und Alu Norf zum Beispiel. Sie konnte sich sogar den Lauf des Rheins vorstellen: Sie sah die Pfeiler der südlichsten Düsseldorfer Brücke und ganz weit links die Vororte von Köln. Dazwischen musste der Rhein fließen, den sie seit Kindertagen kannte, mit Niedrig- und mit Hochwasser. Sie wusste von ihrer Mutter, dass er sogar einmal zugefroren gewesen war, im Winter 1942/1943, als sie selbst gerade ein halbes Jahr alt war. Ihre Mutter und eine Tante waren mit dem Baby Ruth auf den Fluss mit seinen großen Eisschollen gegangen, davon wurde schon mal erzählt. Ihr Vater war zu dieser Zeit schon tot. Er war Korvettenkapitän gewesen und von einer Fahrt nicht zurückgekehrt. Sie wusste nicht recht, ob er ihr gefehlt hatte. Vielleicht kommt daher mein Gefühl, dass ich alles allein schaffen muss, hatte sie oft gedacht.
Auch ihr Mann Klaus war längst tot, war kurz vor ihrer Mutter gestorben. Klaus war ebenso bei der Marine gewesen, allerdings nur als Maat. Geblieben war seine Liebe zum Meer und sein Wunsch, ein Boot zu besitzen. Das hatten sie eines Tages gehabt, hatten es stolz beim Bootsbauer abgeholt, eine Elf-Meter-Yacht, „Wotan“.

Ruth wusste genau, warum sie mit ihren Gedanken durch die Vergangenheit spazierte, sie wollte nicht über das nachdenken, was sie eben gehört hatte. Sie hatte die Ärztin nicht trösten können, war schweigend aufgestanden und gegangen. Es war etwas ganz Anderes, mit Eveline Gedanken darüber auszutauschen, warum eine Nachbarin so plötzlich gestorben war, als die Erklärung einer Ärztin dazu zu hören.
Plötzlicher Tod war hier im Haus am Kirchberg nichts Ungewöhnliches, alle, die hier wohnten, waren alt und viele waren krank. Was die Sache ungewöhnlich erscheinen ließ, war die Tatsache, dass der Sohn davon gesprochen hatte, dass die Mutter sie dringend zu sich gebeten hatte. Und die Ärztin wusste, dass es um eine Testamentsänderung ging.

„Warst du bei Frau Doktor Weise?“ Ruth hatte gezögert, ob sie den Anruf annehmen sollte. Aber sie kannte Eveline nur zu gut, sie würde nicht stillhalten.
„Ja, war ich.“
„Rede!“
„Nicht am Telefon, komm her.“
„So schlimm? Ich komme.“
Ruth räumte noch schnell die drei angefangenen Bücher vom Tisch und holte zwei Wassergläser aus der Vitrine. Ob sie noch Kaffee machen sollte? Da klingelte es heftig, Eveline stürzte herein, weiter ins Wohnzimmer, glitt in einen Sessel und sah Ruth erwartungsvoll an.
„Soll ich einen Kaffee machen?“
„Nein, nein, keine Umstände. Rede!“
Auch Ruth hatte Platz genommen, ihren ersten Satz hatte sie bereits geübt. „Es gibt Neuigkeiten“, sagte Ruth mit ernster Miene.
„Was du nicht sagst, nun rede schon.“
„Sie fürchtet, dass ihre Tante ermordet worden ist.“ Ruth lehnte sich in ihren Sessel zurück und wartete auf Eveline Reaktion. Leider hatte sie etwas übertrieben, von Mord war nicht die Rede gewesen.
„Und von wem? Warum? War sie bei der Polizei?“ Die erwartete Reaktion, Eveline wollte alles und sofort.
„Weiß sie nicht – wegen des Testamentes – nein.“ Ruth bot die Kurzfassung.
„Testamentsänderung, aha. Logisch. Das ist ein plausibler Grund. Und warum war sie nicht bei der Polizei?“
„Keine Ahnung, über die Polizei haben wir gar nicht gesprochen. Und schließlich ist es nur eine Vermutung. Die Tante war sehr schwer krank, herzkrank. Sie wäre wahrscheinlich in den nächsten Wochen gestorben. Aber vorher …“
„Ja, eine Testamentsänderung. Und die musste ihr Mann verhindern.“
„Plausibel.“ Aber sofort erinnerte sich Ruth daran, dass Hilde Wintzig wusste, dass Niemann gar nicht zu Hause gewesen war, als seine Frau starb. Sie informierte Eveline darüber und die beschwerte sich, dass sie ihr nicht sofort vom Verdacht der beiden Nachbarn erzählt hatte.
„Ja, und nun, wer hat ihr das Gift gegeben?“
„Gift?“
„Fingerhut.“
Es entstand eine Pause. Zwei Detektivgehirne beginnen zu arbeiten, dachte Ruth. Eveline war die erste, die wieder etwas sagte: „Sie könnte es auch selbst gewesen sein, sie könnte ihr eine höhere Dosis der üblichen Medizin gegeben haben. Nun hat sie Angst vor der Polizei und schweigt.“
„Das ist Unsinn, sie hätte gar nicht mit mir darüber sprechen müssen. Sie war sehr bedrückt. Ihre Tante hatte vielleicht von ihr Hilfe erwartet, aber sie konnte nicht, sie konnte nicht ihre Existenz aufs Spiel setzen. Sie wusste außerdem, dass die Tante ohnehin bald sterben würde.“
„Wer war es denn sonst? Vielleicht ist sie einfach so gestorben.“

Eveline hatte aufgegeben, war aufgestanden und gegangen. Bei Ruth hatte sich der Gedanke an Mord festgesetzt. Der Ehemann war nicht zu Hause gewesen. Vielleicht wollte er sich ein Alibi verschaffen? War nicht schön von ihm, seine kranke Frau allein zu lassen. War er im Zorn verreist, weil sie von der Testamentsänderung gesprochen hatte?
Da wäre einiges zu klären, wenn sie einen Mord nachweisen wollten. Halt. Stopp, liebe Ruth. Was soll das denn? Mord nachweisen. Was ging sie das denn überhaupt an. War das nicht Sache der Familie, wenn ein Verdacht bestand? Es war Sache der Polizei. Richtig. Hatte einer von denen etwas unternommen? Nein. Die Ärztin fürchtete sicher, als erste in Verdacht zu kommen – nämlich Sterbehilfe geleistet zu haben. Sie hatte alles zu verlieren. Die Söhne wollten ihren Vater nicht anklagen, wussten sicher, dass er gar nicht in der Nähe seiner Frau gewesen war. Vielleicht stammte ihre ablehnende Haltung daher, dass sie ihm das übelnahmen? Und vielleicht hatte Eveline Recht: Vielleicht ist sie tatsächlich einfach so gestorben.

Mitten in der Nacht schreckte Ruth hoch. Was war los? Was hatte sie geträumt? Wie immer – eine Erinnerung an den letzten Traum fand sie nicht. Es war noch dunkel draußen, es war noch Nacht. Sollte sie Licht anmachen und nach der Zeit sehen? Nein, besser nicht, aus Erfahrung wusste sie, dass dann an Einschlafen nicht zu denken war. Sie drehte sich auf die andere Seite und schlief ein. Dachte sie. Vor ihrem Auge erschien die Ärztin, Frau Doktor Weise. Eigentlich nur der Kopf, dahinter verschwamm alles. Sie sah Ruth ruhig an und Ruth schreckte wieder hoch. Diese Frau hatte von Mord oder von Ermorden gesprochen. Hatte sie das wirklich getan, oder bildete sie sich das jetzt ein? Hatte sie nur mit ihr darüber gesprochen? Warum? Brauchte sie Hilfe? Sicher quälte sie der Gedanke, dass jemand aus ihrer Verwandtschaft ein Mörder war. Der Ehemann, ihr Onkel, die Schwägerin, auch eine Tante von ihr? Also Menschen, die hier im Haus am Kirchberg wohnen. Also Menschen, die ihre eigenen Nachbarn waren. Das musste sie klären, sie musste noch einmal mit der Ärztin sprechen und fragen, wen sie verdächtigte. Vielleicht konnte sie sie dazu bewegen, zur Polizei zu gehen. Hatte sie irgendwelche Anhaltspunkte? Warum hatte sie nicht am Nachmittag danach gefragt?


Am Morgen überlegte Ruth, wie sie zu einem erneuten Gespräch mit der Ärztin kommen könnte. Sie in der Praxis aufzusuchen, wo vielleicht andere mithören würden, nein, das ging nicht. Bis morgen warten? Nein.
Die Frage löste sich von selbst: Frau Doktor Weise rief an und bat Ruth dringend, niemandem von ihren Gedanken zum Tod der Tante zu erzählen. Ruth versicherte ihr, dass sie das nicht tun würde und hatte ein schlechtes Gewissen: Eveline. Sie nahm ihren Mut zusammen und fragte: „Haben Sie selbst den Totenschein ausgestellt?“
„Nein, das habe ich nicht. Es wurde in unserer Praxis angerufen und ich bin natürlich ins Haus am Kirchberg gelaufen. Mein Onkel war nicht in der Wohnung, verreist, wie ich dann erfahren habe. Die Schwester, die meine Tante gefunden hatte, saß weinend da und wartete auf mich. Für den Totenschein habe ich einen Kollegen angerufen.“
„Hat denn irgendetwas in der Wohnung Sie auf den Verdacht gebracht, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte?“ Ruth fand sich penetrant, aber dies war die Gelegenheit, etwas mehr zu erfahren.
„Nein, gar nichts, was denn auch. Auf ihrem Nachttisch lagen ihre üblichen Tabletten, daneben stand das Fläschchen Digitalis, eine homöopathische Mixtur, die sie zusätzlich einnahm. Ich halte nicht viel davon, aber sie dachte, dass das eine Unterstützung zu ihren normalen Medikamenten sein könnte. Ihre Schwägerin schwört darauf.“
„Und so eine zusätzliche Dosis richtet keinen Schaden an?“
„Nein, auf keinen Fall. Man muss halt dran glauben, dass es wirkt. Ich habe mir erst später Gedanken über den Ablauf gemacht. So wie sie da lag – sie war gewiss nicht friedlich eingeschlafen. Andererseits: Warum sollte sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen, wenn sie doch dringende Pläne hatte.“
“Sie haben Recht, die Söhne waren gebeten worden, zu kommen.“ Ruth erinnerte sich an die Bemerkung des Sohnes am Samstag.
„Doktor Eberlein, mein Kollege, hat nichts weiter zu ihrem Zustand gesagt, hat den Totenschein ohne große Nachfragen ausgestellt. Er wusste, wie krank sie war.“

Donnerstag, 12. Oktober 2017

Heimliches Gift - Ende Kapitel eins


Im Speisesaal war es wieder recht laut am nächsten Tag; noch hatten nicht alle ihr Essen auf dem Tisch, da war Zeit für einen mehr oder weniger lebhaften Meinungsaustausch. So schlimm waren die Zeiten noch nie gewesen. Die Türkei, die USA, die schrecklichen Kriegswirren im Nahen Osten. Über die heimische Politik wurde vorsichtshalber nicht diskutiert.

Ruth und Eveline saßen an ihrem Zweipersonen-Tisch an der Längswand des Saals, hier war es ein wenig ruhiger. Ruth hatte den Blick auf die Eingangstüren und auf die Küchentüren daneben, die sich ständig öffneten und schlossen, das Servieren begann. Eveline konnte durch die Fenster hinaussehen und berichtete gelegentlich über die Vorbeifahrt von Lastwagen, Feuerwehrautos oder besonders teuren Karossen.

„Müsstest du nicht mal wieder zum Doktor gehen?“, fragte Eveline, senkte ihren Blick und stocherte im Gemüse herum, Wirsing.
„Wieso denn das? Ich fühle mich wohl – oder sehe ich so schlecht aus?“ Ruth ließ ihr Besteck fast fallen und starrte Eveline an.
„Nein, nein, du siehst aus wie immer.“
„Das ist auch kein Kompliment“, meinte Ruth. „Also, wieso ein Arztbesuch?“
„Das liegt doch auf der Hand. Wollten wir nicht herausbekommen, wieso Frau Niemann so unerwartet gestorben ist? Du könntest diese Frau Doktor Weise ganz unauffällig danach fragen, ihr wart doch beide bei der Trauerfeier.“ Ruth verstand, war aber abgeneigt.
„Ach, weißt du, das geht uns doch eigentlich gar nichts an. Und wenn sie etwas damit zu tun hat, wird sie die Frage gar nicht gern hören. Warum soll ich sie in Verlegenheit setzen?“
„Spielverderber.“ 

Hilde Wintzig, Friedhelm Angerhaus und Ruth schlenderten auf die Cafeteria zu, sie wollten nach der Montagabend-Diskussion ihrer Gruppe noch ein Gläschen Wein trinken. Und lästern, natürlich. Das taten sie meistens nach dem Treffen des Geschichtsvereins.
„Wir müssen ganz unbedingt dafür sorgen, dass weitere Interessenten unserem Geschichtsverein beitreten und an unseren Diskussionen teilnehmen; immer die gleichen Argumente, immer die gleichen Erinnerungen, das wird langweilig“, begann Hilde. Ruth und Friedhelm nickten, aber woher nehmen …
Ruth war vor ein paar Monaten Mitglied des „Geschichtsvereins“ geworden. Das Interesse war breit gefächert, sie hatte zum Beispiel die Geraden Wege kennengelernt, das Lieblingsthema von Angerhaus, dem pensionierten Lehrer. Sie hatten sogar einen Ausflug ins Sauerland unternommen, wo von vielen interessanten Straßen die Rede war. Es wimmelte sozusagen davon, Originalton Eveline, der Ruth davon erzählt hatte.
„Eveline wird ganz sicher demnächst teilnehmen. Allerdings geht es ihr wie mir: Die Geschichte beginnt erst wirklich bei den Römern.“ Angerhaus lachte, das kannte er. Heute trug er einen dunklen Pullover über seinem wohlgebügelten Hemd. Und sah doch eigentlich ganz gut aus, fand Ruth.
„Und was ist mit den alten Griechen?“, fragte er und guckte ein wenig verschmitzter. Will er mich herausfordern?
Ruth ließ sich nicht herausfordern, sondern hatte ein Argument parat, das zog. „Du musst bedenken, die Römer haben wir hier im Rheinland hautnah. Da ist vieles zu besichtigen, ich will im nächsten Jahr mal mit Eveline in die Eifel fahren und eine Besichtigungstour starten. Jetzt ist es schon zu kalt.“
„Wir könnten zusammen mal etwas hier in der Nähe ansehen, wie wär’s zum Beispiel mit Xanten?“ Hilde schaltete sich ein. „Wir haben mit den Senioren der Volkshochschule eine sehr interessante Führung dort gehabt. Es wird immer wieder etwas ausgegraben.“ Ruth fiel ein, dass Hilde während ihrer Berufstätigkeit eine der Volkshochschulen im Umland geleitet hatte.
„Nicht schlecht.“ Angerhaus schien einverstanden. Er wandte sich aber an Ruth und fragte: “Die nette Person gestern an Eurem Tisch in der Cafeteria – ob die nicht vielleicht Interesse am Geschichtsverein hat? Du kennst sie anscheinend gut.“
„Wär‘ möglich“, antwortete Ruth und dachte, dass eine gewisse Nähe zu Hanne Hauser nicht schlecht wäre – da war doch der Verdacht zu klären.
„Ich werde sie fragen, sie ist wirklich sehr nett.“
Hilde kam auf die Fahrt nach Xanten zurück, sie würde sich auf eine neue gemeinsame Fahrt freuen. Das schien tatsächlich so zu sein, ihre sonst immer blassen Wangen hatten an Farbe gewonnen, das machte sie gleich ein wenig jugendlicher. Da hatten sie also einen Plan für das nächste Jahr. Schön. Schön für ältere Damen, die sich über jede Abwechslung freuten. Übrigens nicht nur kultureller Art.
Hilde sah sich um, ob jemand zu nahe bei ihnen saß und flüsterte: „Es wird schon wieder über Sterbehilfe geredet.“
Auch Friedhelm sah sich erst einmal um, fuhr sich durch seine immer noch blonden Haare und fragte dann: „Niemann?“
Ruth saß ganz still dabei, gut, dass Eveline nicht mitgekommen war.
„Ja, Frau Niemann“, sagte Hilde. Dann sah sie Ruth auffordernd an. Als die schwieg, flüsterte sie wieder: „Du musst doch mehr darüber wissen. Warst du nicht bei der Trauerfeier?“
„Das war ich, ja, aber ihr denkt doch nicht, dass über ein solches Gerücht bei einer Trauerfeier geredet wird.“
„Wie haben sich die Angehörigen denn verhalten?“ Friedhelm war genauso neugierig wie Hilde.
„Etwas seltsam schon, die Söhne hielten deutlich Abstand vom Vater.“ Das war Ruth tatsächlich aufgefallen. Und die Bemerkungen des Sohnes waren ihr noch in Erinnerung. Sollte sie etwas dazu sagen?
„Der Ehemann kann‘s nicht gewesen sein, der war zu der Zeit, als seine Frau starb, gar nicht zu Hause.“ Hilde hatte sich anscheinend umgehört. Sollte sie jetzt die Nichte ins Gespräch bringen, fragte sich Ruth, die Überlegung war jedoch überflüssig. Hilde fuhr fort: „Es gibt da eine Nichte, die Ärztin ist, praktiziert hier am Ort, Frau Doktor Weise. Hält nebenher hier im Haus Sprechstunden ab, jeden Mittwoch, sie hat einen Raum innerhalb der Pflegeabteilung.“
Das war Ruth neu, sie war in die Praxis am Markt gegangen, wenn sie Blutdrucktabletten brauchte. Angerhaus wusste anscheinend davon, fand das praktisch. Pries in den höchsten Tönen die Fähigkeiten der Frau Doktor und hob hervor, wie gut sie aussieht. Hilde guckte ein bisschen grämlich und Ruth fiel ein, dass da mal etwas gewesen war, zwischen Hilde und Friedhelm. Hilde hatte heute wieder ein Twinset in grau an, was sie leider nicht attraktiver machte. Es gab Leute, die sie immer schon eine graue Maus nannten. Aber da war sie nicht die einzige hier im Haus am Kirchberg, dachte Ruth.
„Praktisch, eine Ärztin in der Familie. Frau Niemann soll sehr krank gewesen sein…“ Hilde kam zum Thema zurück.
„Du kannst dir also vorstellen, dass sie …“, fragte Ruth.
„Vorstellen kann man sich vieles“, mischte Friedhelm sich ein. „Ich will es mir nicht vorstellen. Das ist doch strafbar und wir sollten keine Gerüchte in die Welt setzen.“ Er hatte die Lust am Spekulieren anscheinend verloren.
Hilde lehnte sich über den Tisch zu ihm hin und flüsterte: „Du hast doch selbst davon angefangen am Samstagabend. Du hast nicht weit vom Tisch der Trauergesellschaft gesessen, und ...“ Mehr wollte Hilde jetzt wohl nicht sagen, sie lehnte sich also wieder zurück und blickte auf ihr inzwischen geleertes Glas.
„Trinken wir noch ein Glas?“, fragte Friedhelm, der den Blick bemerkt hatte und anscheinend nicht über den Samstagabend reden wollte.
Ruth und Hilde meinten, sie seien müde und wollten schlafen gehen, und Friedhelm schien das recht zu sein.
Ruth wollte noch über das Gehörte nachdenken. Sollte es tatsächlich ein Fall von Sterbehilfe sein? Das ging sie nichts an, das war eine private Entscheidung. Andererseits – wieso hatte Frau Niemann ihre Söhne zu sich gerufen und hatte dann ihr Kommen nicht abgewartet? 

Sonntag, 8. Oktober 2017

Heimliches Gift - Fortsetzung Kapitel 1


Am nächsten Tag, einem Samstag, hatte Ruth Gelegenheit, die ganze Familie Niemann kennenzulernen: die Trauerfeier. Sie hatte ihr dunkles Kostüm hervorgeholt, das für solche und ähnliche Anlässe vorgesehen war. Sie fand, dass es gut zu ihren grauen Haaren passte, außerdem versteckten sich ihre Pölsterchen freundlicherweise unter der locker geschnittenen Jacke.
Der Allzweckraum mit dem Namen Wuppertal hatte sich in eine Andachtsstätte verwandelt. Große Messingkerzenleuchter, üppige Blumengebinde. Darunter die Urne. Stühle in einem Halbrund angeordnet. Ganz vorn saßen drei schwarzgekleidete Herren neben ebenso schwarzgekleideten Damen, die Familienangehörigen. Ein geistlicher Herr hielt eine kurze Andacht, fand sehr persönliche Worte. Die Damen weinten. Einer der Söhne sprach ebenso zur Trauergemeinde. Ruth wunderte sich, wie gut Niemann noch aussah, er musste die achtzig überschritten haben. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Schauspieler, der gern Nusspralinen mochte und sie im Fernsehen bewarb … Wie heißt er doch gleich? Sky Dumont.

Ruth hatte den Eindruck, dass sich die Trauer unter den Anwesenden in Grenzen hielt. Was für ein Mensch mochte Gertrud Niemann gewesen sein? Ein Nachbar aus dem Haus, er saß rechts neben ihr, schien allerdings sehr ergriffen zu sein, er weinte und seine Frau musste ihn trösten.
Man bat zum anschließenden Leichenschmaus in einem Nebenraum, genau wie bei einer Beerdigung. Es war eine Kaffeetafel gedeckt und das Ritual nahm seinen Lauf. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Gesellschaft sich auflöste. Ruth ging ganz in Gedanken versunken in Richtung Fahrstuhl und schreckte hoch, als sich einer der Söhne zu ihr gesellte.
„Sie haben meine Eltern gut gekannt, nicht wahr?“, fragte er. „Ich habe Sie beim Geburtstag meiner Mutter gesehen.“ Ruth erinnerte sich auch und antwortete, dass sie seine Mutter leider nur kurz gekannt hatte, wohl aber den Vater aus ihrer Berufszeit kenne.
„Wir waren so überrascht von ihrem plötzlichen Tod.“ Er machte eine Pause und sprach leise weiter: „Wie gern hätten wir noch Abschied genommen.“
„Ja, es ist immer zu früh, selbst wenn eine lange Krankheit zu schaffen macht.“
“Sie hatte uns dringend gebeten zu kommen, dann war es zu spät. Was mag sie gewollt haben?“, fügte er noch an. Die letzten Worte waren offensichtlich nicht für Ruth bestimmt, so leise hatte er gesprochen. Er nickte ihr zu und zog seine Frau an seine Seite, die bisher neben einer jüngeren Frau gegangen war. Ruth kannte sie aus der Arztpraxis am Markt, Frau Doktor Weise. „Die Nichte“, wisperte eine Nachbarin ihr zu.

„Frau Niemann ist wohl tatsächlich ganz plötzlich gestorben, sie hatte ihre Söhne gebeten zu kommen – sie kamen zu spät.“ Ruth saß wieder in Evelines Wohnung und berichtete.
„Woher weißt du das denn?“
„Einer ihrer Söhne hat es erwähnt.“
„Vielleicht wollte sie ihr Testament ändern und ihr Mann hat es verhindert.“ Eveline lächelte vergnügt, endlich wieder eine Abwechslung. Ruth war empört, oder tat sie nur so? Sie wusste es selbst nicht.
„Eveline! Liest du die Krimis oder ich?“
„Du, aber ich habe Fantasie.“ Sie sahen sich stumm an, jede wusste von der anderen, was sie dachte: Das mit dem Testament kann stimmen. Eveline ging einen Schritt weiter. „Könnte auch Sterbehilfe gewesen sein.“
„Ja, stimmt. Nach einer langen schweren Krankheit, da möchte man vielleicht nicht mehr weiterleben. So – jetzt hast du die Auswahl, liebe Eveline.“
„Ja, nach einer langen schweren Krankheit dann ‚plötzlich und unerwartet‘ … Und wie finden wir das heraus?“ Eveline rutschte aus ihrem Sessel nach vorn.
„Wir?“, fragte Ruth und blickte ihre Freundin herausfordernd an.
„Ja, wir, bisher waren wir doch erfolgreich mit unseren Theorien.“ Da ist was dran.
„Es gibt da eine Nichte, die Ärztin ist.“
„Ha! Ärztin!“
„Das wäre die Richtung Sterbehilfe. Mord wäre wohl die Sache des Ehemannes.“ Ruth ließ sich mitreißen, auch sie spekulierte gern. Das war ihr Ausgleich zu einem nüchternen Beruf gewesen und jetzt zu einem ziemlich langweiligen Lebensabend.
„Das ist eine Aufgabe für die nächsten Wochen“, meinte Eveline und lehnte sich wieder in ihren Sessel zurück. Sie leckte sich ihre tiefrot geschminkten Lippen, ihre Augen leuchteten, ganz die alte Eveline, dachte Ruth. Sie sieht wohl schon die Beute vor Augen.



Telefon: „Hast du Lust auf einen Sonntagsnachmittagskaffee?“ Eveline klang unternehmungslustig.
„Ja, warum nicht? Wo?“
„Was hältst du von einem Besuch in der Cafeteria, Leute begucken.“ Eveline.
„Ich setz‘ mich in Bewegung, bis gleich.“ Das machte Ruth auch und fuhr mit dem Aufzug hinunter ins Erdgeschoss. Mit ein paar Schritten nach rechts war sie vor den Glastüren der Cafeteria, die sich auf Annäherung öffneten. Altengerecht, dachte sie mal wieder. Sie war früher da als Eveline und suchte einen Platz nahe bei den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite aus. Leider gab es zu dieser Jahreszeit draußen nicht mehr viel zu sehen; in dem kleinen Garten war es herbstlich geworden, auch die letzten Rosen fast verblüht. Aber von hier aus hatte man den Blick frei auf die Türen, von wegen „Leute gucken“.
„So allein heute?“, fragte Frau Bauer, die netteste Bedienung, wie Ruth fand.
„Nein, Frau van Osten kommt gleich.“
„Frau van Osten, wie geht es ihr denn? Das war eine schlimme Zeit, als sie im Koma lag.“ Im Haus am Kirchberg blieb nichts verborgen, das wusste Ruth seit langem.
„Ach, es geht wieder ganz gut, Sie werden es selbst sehen.“
Und da kam sie, wie immer tiptop gekleidet. In Samt und Seide, so nannte sie das selbst, auch wenn es mal Baumwolle war.
An der Kuchentheke wurde beratschlagt, was denn wohl am besten schmecken würde und man entschied sich heute für Champagnertorte. Ruth schweren Herzens, sie überschlug die Kalorienanzahl des heutigen Nachmittags und warf einen neidischen Blick auf die zarte Figur ihrer Freundin Eveline. Sie selbst bezeichnete sich schon mal als kompakt.
Frau Bauer brachte neben der Torte den obligatorischen Milchkaffee an den Tisch und verkniff sich eine Bemerkung zu den überstandenen Wochen. Nur ja nichts Negatives ansprechen –  Devise des Hauses, in dem sehr viel Negatives passierte. Der Schwund ist groß, pflegte Eveline zu sagen. Worauf Ruth für gewöhnlich den Kopf schüttelte und sagte: „Ach, Eveline.“
Die Champagnertorte war schnell verspeist, ein zweiter Milchkaffee bestellt. Die Ausbeute an Leuten, die sich zu begucken lohnte, war heute mäßig, obwohl die Cafeteria sehr gut besetzt war.
„Übrigens sehe ich eben Hanne Hauser – du weißt schon –  hereinkommen, sie geht zur Kuchentheke.“ Neben dem Eingang hatten sie die Kuchentheke links davon im Blick.
“Kannst du sie nicht fragen, ob sie an unseren Tisch kommen möchte?“
„Ja, warum nicht. Sie ist ganz nett. Ich geh zu ihr.“
Hanne Hauser war offensichtlich erfreut über die Einladung an den Tisch, denn es war recht voll in der Cafeteria, das Übliche an einem Sonntagnachmittag. Ziemlich viele Gäste – die einen gern bei Oma und Opa, sie unterhielten sich lebhaft; andere schienen sich zu langweilen und stopften mürrisch Kuchen in sich hinein.

„Ich darf mal bekanntmachen … eine alte Freundin … eine alte Kollegin.“ Ruth stellte vor und nannte die Namen. Hanne war recht konventionell gekleidet, Rock und Bluse, was gut zu ihrem Typ passte. Schlank und ein wenig sportlich, auch die Frisur, dunkelblondes Haar. Ruth sah Eveline an, dass sie das mit einem Blick erfasste und sich vielleicht fragte, ob die Haare gefärbt waren.
Eveline, neugierig wie immer, fasste die „alte Kollegin“ gleich am Arm, als sie sich neben sie gesetzt hatte, und fragte: „Waren Sie gestern auch bei der Trauerfeier?“
Ruth erstarrte und wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Sie sah hinaus in den Garten und bekam nicht mit, welchen Gesichtsausdruck die Frage bei Hanne Hauser hervorrief.
„Ach nein“, sagte die ganz ruhig, „mit Trauerfeiern hab‘ ich es nicht so. Und wenn Sie die Trauerfeier Niemann meinen, ich war gar nicht dazu eingeladen.“
Ruth wandte sich ihr jetzt zu und sagte: “Oh, je, ich bin uneingeladen hingegangen. Das ist mir jetzt peinlich.“ Das war es tatsächlich. Hatte sie sich aufgedrängt? Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, dass man sich über ihre Anwesenheit gewundert hatte.
„Ich kenne die Familie Niemann natürlich, aber – wie gesagt – Trauerfeiern sind nicht so mein Ding. Sollen hier im Haus immer sehr würdig ausgerichtet werden, habe ich mir sagen lassen.“ Hanne Hauser wandte sich ihren Bestellungen zu, Ruth und Eveline wünschten „guten Appetit“ und wussten beide nicht recht, was sie nun sagen sollten. Hanne Hauser vielleicht auch nicht, aber die hatte einen Grund zu schweigen: Kaffee und Kuchen.
„Frau Niemann soll lange krank gewesen sein.“ Eveline schreckte wieder vor nichts zurück. „Ich kannte sie gar nicht, bin noch nicht lange im Haus und war eine Zeitlang im Krankenhaus.“
„Ja, ich weiß, Sie hatten einen schweren Unfall, wurde viel darüber geredet.“ Auch Hanne Hauser schreckte vor nichts zurück. Gar nicht der Stil des Hauses am Kirchberg. Eveline schwieg, die Ursache für ihren Krankenhausaufenthalt lag im Dunklen, sie selbst erinnerte sich an nichts.
Ruth versuchte, von Krankheit und Trauerfeiern weg zu kommen und wandte sich an Eveline.
„Frau Hauser und ich haben uns vor langen Jahren auf einer Fortbildung kennengelernt, daher duzen wir uns.“
„Anschließend sind wir dann in verschiedene Referate der OFD, Oberfinanzdirektion, versetzt worden“, fuhr Hanne Hauser zu Eveline gewandt fort. „Daher kenne ich übrigens Herrn Niemann, er war unser Chef. Die OFD Düsseldorf haben sie irgendwann aufgelöst.“
Bevor sich die beiden Pensionärinnen in ein Fachgespräch vertiefen konnten, unterbrach Eveline sie. „Und wie waren die Chefs damals so?“
Hanne Hauser pickte die letzten Kuchenkrümel auf und lachte. „Der Niemann war von Anfang an sehr nett, nicht wahr? Anders als deine spätere Chefin, die Schlosser. Ich weiß, dass du dich oft über sie geärgert hast.“
„Stimmt, so was von pingelig.“ Ruth wunderte sich, dass Hanne so unbefangen von Niemann sprach, sollten die Gerüchte nur Gerüchte gewesen sein?

„Unbefangen?“, sagte Eveline später, als sie wieder alleine waren und über ihre Eindrücke sprachen, „eiskalt!“