Kapitel 1
Der Glanz der Oktobersonne
fiel durch breite Fenster auf die Treppenstufen. Ruth Bergmann stieg
langsam hinunter zur Wohnung ihrer Freundin Eveline; Stufe für Stufe
begleiteten sie die Worte, die sie heute Vormittag im Kondolenzbuch des Hauses am
Kirchberg gelesen hatte: „plötzlich und unerwartet.“
Eveline öffnete ihre
Korridortür mit Schwung und zog Ruth herein in ihre Diele. „Ich habe gerade
einen Yogitee gemacht. Möchtest du auch einen? Ist schnell aufgebrüht –
Tütchen. Kannst natürlich auch Kaffee haben.“ Eveline trat von einem Bein aufs
andere, schon auf dem Weg ins Wohnzimmer und in die Küche.
„Yogitee bitte. Ist der gut für die Stimmung?“
Es kam keine Antwort und Ruth setzte sich auf das Zwei-Personen-Sofa im Wohnzimmer, machte es sich bequem und sah sich um. Hell, sonnig, etwas schlampig wie immer bei Eveline. Konnte auch Absicht sein, sah nämlich malerisch aus. Eveline brachte den Tee und ein paar Plätzchen aus der kleinen Küche.
„Gibt’s was Neues?“, fragte sie und schwenkte die beiden Becher.
„Ich habe mir eben die Todesanzeigen angesehen …“, weiter kam Ruth nicht. Eveline war in ihren Sessel gefallen, der Tee schwappte über.
„Was soll das denn? Todesanzeigen? An einem so schönen Tag. Hast du nichts Besseres zu tun?“ Ihre dunklen Augen musterten Ruth, als zweifelte sie an ihrem gesunden Menschenverstand.
„Ach, entschuldige, Eveline. Du hast Recht, das ist kein Thema für dich.“ Eveline war erst vor kurzem von einer Rehamaßnahme zurückgekommen.
„Na, komm, erzähl. Gab’s was Interessantes?“
„Ich hatte vom Tod einer Nachbarin gehört und wollte mich vergewissern. Es ist die Todesanzeige für die Ehefrau eines früheren Kollegen. Nachbarn hier im Haus, du wirst sie nicht kennen, sie war lange krank.“
„Was stand denn drin in der Anzeige?“
„Die Familie zeigt den Tod von Gertrud Niemann an ‚plötzlich und unerwartet‘.“
„Plötzlich und unerwartet – eine Frau, die länger krank war?“
„Keine Ahnung, was das bedeuten könnte. Wie krank sie war - danach müsste ich eine frühere Kollegin fragen, sie wohnt auch hier im Haus. Sie kannte zumindest den Ehemann, glaub‘ ich, früher ganz gut …“ Ruth legte ihren Kopf schief und sah Eveline an, als wollte sie etwas andeuten.
Das gefiel Eveline offensichtlich. „War er denn damals schon verheiratet?“
„Ja, war er. Er war ihr Chef, für einige Zeit auch meiner. Wenn ich mich recht besinne, war seine Frau ziemlich reich. Er wurde beneidet, Beamtengehälter waren früher nicht gerade üppig.“
„Also die übliche Geschichte: Er ist verheiratet, sie nur Geliebte. An Scheidung nicht zu denken, Geld ist wichtiger als Liebe. Aber“, Eveline holte tief Luft und schwenkte ihren rechten Zeigefinger durch die Luft, „jetzt kann er sie endlich heiraten.“
„Ach je, Eveline, das ist doch lange her. Beide sind mindestens dreißig Jahre älter geworden.“
„Alte Liebe rostet nicht. Und Alter schützt vor Torheit nicht.“
„Sprüche.“
„Vielleicht hat das über die ganze Zeit angedauert“, setzte Eveline ihre Überlegungen fort. „Das halten wir unter Beobachtung.“
„Ach, Eveline.“
„Yogitee bitte. Ist der gut für die Stimmung?“
Es kam keine Antwort und Ruth setzte sich auf das Zwei-Personen-Sofa im Wohnzimmer, machte es sich bequem und sah sich um. Hell, sonnig, etwas schlampig wie immer bei Eveline. Konnte auch Absicht sein, sah nämlich malerisch aus. Eveline brachte den Tee und ein paar Plätzchen aus der kleinen Küche.
„Gibt’s was Neues?“, fragte sie und schwenkte die beiden Becher.
„Ich habe mir eben die Todesanzeigen angesehen …“, weiter kam Ruth nicht. Eveline war in ihren Sessel gefallen, der Tee schwappte über.
„Was soll das denn? Todesanzeigen? An einem so schönen Tag. Hast du nichts Besseres zu tun?“ Ihre dunklen Augen musterten Ruth, als zweifelte sie an ihrem gesunden Menschenverstand.
„Ach, entschuldige, Eveline. Du hast Recht, das ist kein Thema für dich.“ Eveline war erst vor kurzem von einer Rehamaßnahme zurückgekommen.
„Na, komm, erzähl. Gab’s was Interessantes?“
„Ich hatte vom Tod einer Nachbarin gehört und wollte mich vergewissern. Es ist die Todesanzeige für die Ehefrau eines früheren Kollegen. Nachbarn hier im Haus, du wirst sie nicht kennen, sie war lange krank.“
„Was stand denn drin in der Anzeige?“
„Die Familie zeigt den Tod von Gertrud Niemann an ‚plötzlich und unerwartet‘.“
„Plötzlich und unerwartet – eine Frau, die länger krank war?“
„Keine Ahnung, was das bedeuten könnte. Wie krank sie war - danach müsste ich eine frühere Kollegin fragen, sie wohnt auch hier im Haus. Sie kannte zumindest den Ehemann, glaub‘ ich, früher ganz gut …“ Ruth legte ihren Kopf schief und sah Eveline an, als wollte sie etwas andeuten.
Das gefiel Eveline offensichtlich. „War er denn damals schon verheiratet?“
„Ja, war er. Er war ihr Chef, für einige Zeit auch meiner. Wenn ich mich recht besinne, war seine Frau ziemlich reich. Er wurde beneidet, Beamtengehälter waren früher nicht gerade üppig.“
„Also die übliche Geschichte: Er ist verheiratet, sie nur Geliebte. An Scheidung nicht zu denken, Geld ist wichtiger als Liebe. Aber“, Eveline holte tief Luft und schwenkte ihren rechten Zeigefinger durch die Luft, „jetzt kann er sie endlich heiraten.“
„Ach je, Eveline, das ist doch lange her. Beide sind mindestens dreißig Jahre älter geworden.“
„Alte Liebe rostet nicht. Und Alter schützt vor Torheit nicht.“
„Sprüche.“
„Vielleicht hat das über die ganze Zeit angedauert“, setzte Eveline ihre Überlegungen fort. „Das halten wir unter Beobachtung.“
„Ach, Eveline.“
Langsam stieg Ruth die
Treppen hinauf von der dritten Etage, auf der Eveline ihre Wohnung hatte, zur
fünften, auf der sie selbst seit mehr als einem Jahr wohnte. Da hatte sie mal
wieder etwas angerichtet. Eveline würde nicht lockerlassen. Als Ruth dann in
ihrem Sessel saß und weiter über die Angelegenheit Niemann und Kollegin Hanne
Hauser nachdachte, wollte auch sie selbst mehr darüber wissen. Sie ging zu
ihrem Sekretär und überlegte, ob nicht in seinen Tiefen, den Schubladen, noch
das eine oder andere aus ihrer Berufszeit schlummerte. Fotos vielleicht aus der
gemeinsamen Zeit. Aber sie war zu faul, die Arbeitsplatte leer zu räumen, damit
sie an die darunterliegenden Schubladen kam.
Eigentlich, ja, eigentlich
hätte sie sowieso mal wieder aussortieren müssen, was auf dieser Platte lag.
Was sich da immer ansammelte: Die wöchentlichen Essenspläne des Hauses am
Kirchberg, die Pläne der Veranstaltungen. Sie wohnte nicht nur hier, sie war
Teil einer Gemeinschaft, die mittags im Speisesaal saß und nachmittags die
Cafeteria bevölkerte oder an Veranstaltungen im Großen Salon teilnahm. Mal
Lesungen, mal Filmvorführungen, mal was Musikalisches. Ruth hatte sich an die
Rundumbetreuung gewöhnt und fand sie angenehm.
Aus dem Aufräumen wurde nichts, Ruth sank wieder in ihren Sessel und dachte an die Formulierung „plötzlich und unerwartet“. Der Tod einer seit langem schwer kranken Frau.
Aus dem Aufräumen wurde nichts, Ruth sank wieder in ihren Sessel und dachte an die Formulierung „plötzlich und unerwartet“. Der Tod einer seit langem schwer kranken Frau.
1
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.
Beide Links auf der Seite Datenschutz