Montag, 28. November 2016

Allerletzte Leseprobe Unter Verdacht

 Unter Verdacht 
 Kapitel 6 Anfang
„Guten Morgen, Frau Kolb. Herr Angerhaus hat mir inzwischen so viel von den interessanten Themen Ihres Geschichtsvereins erzählt, dass ich gern einmal dazukommen möchte.“ Ruth gedachte, den Stier bei den Hörnern zu fassen. Bei einer Zusammenkunft könnte sie vielleicht das eine oder andere mitbekommen.
„Geschichtsverein?“, fragte Frau Kolb. „Ach ja, jeder nennt unsere Zusammenkünfte anders. Auch Ihnen einen guten Morgen, Frau Bergmann. Natürlich freuen wir uns, wenn Sie dazukommen, vielleicht können Sie unsere Themen ergänzen. Ich habe gehört, dass Sie sich für romanische Kirchen interessieren.“ Gute Kommunikation unter den Dreien.
„Ja, tatsächlich, ich habe mich mal im Norden von Düsseldorf umgesehen. Kaiserswerth, Kalkum, Wittlaer und ein Vorort von Duisburg – Mündelheim. Schöne Kirchen mit reicher Geschichte.“
„Also herzlich willkommen. Wir treffen uns immer montags, in wechselnder Runde. Um zwanzig Uhr heute Abend im Raum Wuppertal, den stellt man kleinen Gruppen wie uns netterweise zur Verfügung.“


Das war geschafft. Ob sie wohl so etwas wie eine inoffizielle Aufnahmeprüfung zu bestehen hatte? Sie hatte tatsächlich vor ein paar Jahren Ausflüge zu diesen Kirchen unternommen. Hatte sich Notizen gemacht. Doch wo waren die? Papier? Nein – Computer. Nichts. Zu lange her. 2006. Da half nur der museumsreife Speicherstick aus ferner Vergangenheit. Tatsächlich. Schnell das Wichtigste auf Word übertragen und ausgedruckt.
Ruth erinnerte sich, dass sich die romanischen Kirchen mit etwas berührten, was sie interessierte: Römer im Rheinland. Natürlich über einige Ecken. Die Kirchen in Mündelheim, Wittlaer und Kalkum waren von drei „Juffern“ gegründet worden. Da gab es einiges nachzulesen. Aber die Verbindung zu den alten Römern war klar: die „drei Matronen“. Kurz rekapituliert – Hauptheiligtum Bonn, viele Weihesteine in der Eifel. Davon hatte Eveline ihr mal Bilder gezeigt. Ruth kannte sie aus der Literatur. Ha! Da konnte sie Wintzig beweisen, dass auch sie selbst Kenntnisse hatte. Wieso eigentlich der Wintzig?
Ruth hielt den Speicherstick in der Hand und musste grinsen: 128 MB Kapazität. Sie erinnerte sich genau an den Tag der ersten Begegnung mit diesen Wunderdingern. Herr Oppermann kam in den Computer-Club und rief triumphierend aus: „So etwas habt ihr noch nicht gesehen!“ Das stimmte. Eine höchst willkommene Ergänzung des mageren Speichers im PC. Und man konnte die Daten transportieren. Das führte Herr Oppermann gleich vor. Der arme Herr Oppermann, auch schon tot.

„Kommen Sie herein, Sie sind uns willkommen“, sagte Gudrun Kolb, als Ruth vorsichtig die Tür zum Raum Wuppertal öffnete. Beinahe wäre sie zurückgeprallt – der Raum war voll. Gudrun Kolb natürlich, präsidial am Kopf des Tisches thronend, nahe der Tür, links neben ihr Friedhelm, rechts neben ihr Wintzig. An Friedhelm schlossen sich an das Ehepaar Overkamp und Frau Heltrup. Neben Wintzig ein Ehepaar, das Ruth zwar vom Sehen kannte, nicht aber ihren Namen. Sie nahm also gegenüber von Frau Heltrup Platz. Sah sehr nett aus, fand Ruth, sehr gepflegt, schicke Frisur – echt blond? Die blauen Augen, die von der modischen Brille fast verdeckt wurden, hätten dazu gepasst. Seltsam, wie wenige Nachbarn eine Brille trugen. Vielleicht das Ergebnis gelungener Staroperationen?
Auf den zusammengerückten Tischen standen Gläser und die obligatorischen Wasserflaschen. Der Platz gegenüber von Gudrun Kolb war leer. Würde er wohl auch bleiben, denn Frau Kolb begrüßte jetzt die Teilnehmer. Es war wohl Glorias Platz gewesen. Gudrun stellte Ruth kurz vor. „Sie kennt sich mit romanischen Kirchen aus.“

Es wurde ein ganz interessanter Abend. Wintzig erzählte von ihrem gestrigen Besuch der romanischen Kirche in Hilden, sprach kurz über die alten Straßen, die sich im Nachbarort kreuzten, und lächelte dabei Friedhelm zu, dem Straßenkenner. Der Gegensatz zwischen Gudrun und Hilde Wintzig hätte größer nicht sein können. Gudruns dunkle, lebendige Augen, ihr volles, dunkles Haar – und Hilde Wintzig blassblond mit blassblauen Augen. Dass Neid im Spiel sein konnte bei der Anschuldigung Hildes, schien Ruth plausibel. Ansonsten hatte sie den Eindruck, dass die Dreiergruppe, die hier zusammensaß, ein Herz und eine Seele war – den Eindruck vermittelten sie, oder versuchten sie es nur?

Ruth wurde aufgefordert, etwas über die Kirchen zu sagen, die sie erwähnt hatte. Es fiel ihr leicht, sie war vorbereitet. Auch sie konnte – mit einem Lächeln zu Friedhelm – von einer alten Straße berichten, von der „hilige straat“, ein Prozessionsweg, der von Essen-Werden über Hösel, Ratingen, Kalkum nach Kaiserswerth zur Suitbertus-Kirche verlief. Natürlich erwähnte sie ihre Quelle: den Düsseldorfer Geschichtsverein. Die drei Juffern streifte sie nur kurz, da war sie nicht sattelfest. Ihre Erwähnung fand aber Beachtung, sie wurde mit einem dreieinigen Lächeln von Gudrun, Wintzig und Friedhelm quittiert. „Drei-Frauen-Legenden“ gehörten wohl zum Wissensfundus des Geschichtsvereins.

Friedhelm ergänzte einiges zu den Straßen und dann begann der legere Teil des Abends. Eine der jungen Frauen, die nur abends in der Cafeteria bedienten, nahm die Bestellungen auf – es durfte auch Alkohol sein. Alle versuchten ein paar Worte mit Ruth zu wechseln. Man freute sich anscheinend über einen zu erwartenden Zuwachs.

Ruth hatte Zeit, sich umzusehen. Der „Raum Wuppertal“ lag nahe beim Großen Salon, er war im Gegensatz zu anderen Räumen im Haus am Kirchberg recht schlicht eingerichtet. Außer dem großen Tisch und den Stühlen gab es nur ein ziemlich altes Sideboard. Ruth wusste von der Literatur- und von der Singgruppe, dass sie diesen Raum auch nutzten.

Freitag, 18. November 2016

Unter Verdacht Leseprobe Nr. 7

 Unter Verdacht Kapitel 5
„Hallo Frau Bergmann, wir haben uns ja lange nicht gesehen, wie geht’s denn?“ Frau Blumenthal, Irmi Blumenthal, kam auf Ruth zu und schüttelte ihr beide Hände.
„Ich habe mich auch gefragt, wo Sie sind – sonst liefen wir uns doch öfter mal über den Weg“, sagte Ruth. Sie freute sich, die Nachbarin wiederzusehen; es kam vor, dass man einander gar nicht mehr wiedersah.
„Es liegt an mir, ich hatte eine Einladung zu einer Rundfahrt über die Kanäle im Osten und das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Anschließend bin ich in Lüneburg am Elbe-Seitenkanal hängengeblieben und so vergeht die Zeit.“
„Beneidenswert“, sagte Ruth und beneidete Irmi Blumenthal wirklich. Wie lange hatte sie nicht mehr auf einem Boot gestanden oder gar damit eine Fahrt unternommen. Vorbei.
„Davon müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen“, sagte sie und die beiden Damen ließen sich auf den rosengeblümten Sesseln in der Halle des Hauses am Kirchberg nieder.
Irmi Blumenthal legte los, außer Ruth kannte sie niemanden, der sich für Boote interessierte. Sie hatten beide zusammen mit ihren Ehemännern eine praktische Elf-Meter-Yacht gehabt, nicht zu groß und nicht zu klein. Fahrten durch die Kanäle, mal in Deutschland, mal durch Frankreich, hatten auch Ruth und ihr Klaus genossen.
Irgendwann wurden die Kehlen trocken und man bewegte sich in Richtung Cafeteria. Ruth schilderte die Weimar-Fahrt und die Folgen. Irmi Blumenthal aber wunderte sich nicht, dass es Gloria Molenbeck „erwischt“ hatte, wie sie sagte.
„Die Gute war ein wenig zu sehr von sich überzeugt. Eigentlich sind wir alle aus dem Alter heraus, dass wir uns für das andere Geschlecht interessieren, auch wenn man den einen oder anderen schon mal etwas näher kennenlernt. Bei Frau Molenbeck war es nicht der eine oder andere, sondern gleich eine ganze Hand voll.“
Ruth merkte auf und hoffte, dass ihre Begleiterin etwas mehr wüsste. Die ließ sich nicht bitten, sondern erzählte gleich weiter: „Der armen Frau Wintzig hat sie den Herrn Angerhaus ausgespannt und der ließ sich das gern gefallen. Ist ein flottes Kerlchen, wenn ich das mal so sagen darf.“ Ruth wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, entschloss sich aber schnell, damit herauszurücken, dass auch sie Herrn Angerhaus’ Gesellschaft zu schätzen wisse. „Er hat enorme Geschichtskenntnisse“, fügte sie an, um keinen anderweitigen Verdacht aufkommen zu lassen.
„Ja, das stimmt, er hat mal einen Vortrag über Straßen gehalten, wie heißen sie doch gleich?“
„Gerade Straßen, vorwiegend wohl in England vertreten.“
„Ja, richtig, ‚Gerade Wege in England‘, das war sein Thema. Ist etwas länger her. Frau Wintzig hing an seinen Lippen, sie ist wohl auch in diesem Geschichtsverein. Ebenso die berühmt-berüchtigte Gloria.“
„Wieso denn berühmt-berüchtigt?“
„Wissen Sie das nicht? Sie hat mit Frau Kolb zusammen Séancen veranstaltet, keine Ahnung, wer da sonst noch teilgenommen hat. Ich jedenfalls nicht – Firlefanz.“
Die beiden Hexen. Da war es wieder. Nicht die Schwestern, sondern Gudrun und Gloria? Oder?
„War Frau Wintzig denn auch dabei?“
„Keine Ahnung. Sie scheint mir ein bisschen zu langweilig dafür zu sein, aber wer weiß? Es heißt übrigens, dass sie mal eine Zeitlang in der Praxis von Frau Dr. Molenbeck gearbeitet hat.“
„Die seltsamsten Verwicklungen gibt es hier im Haus“, sagte Ruth, „auch uns verbindet ja etwas, was sonst niemanden interessiert.“ So kamen sie wieder zu den Erinnerungen an frühere Zeiten zurück. Dass sie selbst an einer Séance teilgenommen hatte, zusammen mit Gloria und Gudrun, erwähnte Ruth nicht. Mit berühmt-berüchtigten Damen wollte sie lieber nicht in Zusammenhang gebracht werden.

Wer waren nur diese verdammten Hexen? Mit dem Wort Hexen hätte Ruth jetzt am ehesten die Damen und Herren vom Geschichtsverein verbunden. Da musste sie ansetzen, wenn sie weiterkommen wollte. Wer genau dazugehörte, wusste sie nicht, sie musste also mit Angerhaus Kontakt aufnehmen. Zunächst einmal telefonisch.

„Herr Angerhaus, wir haben letztens darüber gesprochen, wer Gloria Molenbeck in Weimar erstickt haben könnte, sollten wir uns nicht noch einmal darüber austauschen?“
„Nichts lieber als das. Wir könnten uns mal abends zusammensetzen, nicht gerade bei Kerzenschein, aber bei einem Gläschen Wein.“
„Gut, dann vielleicht gleich heute Abend – um acht Uhr?“
„Abgemacht.“

„Lieber Herr Angerhaus, wer gehört eigentlich alles zu Ihrem Geschichtsverein?“ Ruth konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Angerhaus gab bereitwillig Auskunft.
„Von denen, die Sie von der Reise her kennen, Frau Kolb natürlich, die Initiatorin, dann Hilde Wintzig, das Ehepaar Overkamp. Die arme Gloria und meine Wenigkeit. Darüber hinaus ein weiteres Ehepaar, gelegentlich Ingeborg Heltrup.“  Er war ganz stolz, dass es doch eine größere Gruppe war, die zum Geschichtsverein gehörte, es hätte für einen „richtigen“ Verein gereicht.
„Ach, Frau Bergmann, könnten wir uns nicht duzen? Ich weiß, dass Sie die Initiative ergreifen sollten, aber mir würde es gefallen, wenn Sie ja sagen würden. Und in unserer Geschichtsrunde duzen wir uns sowieso fast alle.“
Ruth hatte ganz und gar nichts dagegen, sie fand Angerhaus sehr nett. Sie hob ihr inzwischen gefülltes Weinglas und meinte: „Ja, gern, lieber Friedhelm, das ist doch dein Name? Das ist aber noch nicht der Einstieg in deinen Geschichtsverein.“
Was Hexen betraf: Weder Gudrun Kolb noch Hilde Wintzig konnte Ruth sich auf dem Blocksberg vorstellen. Sollte der Geschichtsverein also eine Sackgasse sein? Sackgasse statt geradem Weg.

Na, wenn schon, Friedhelm immerhin war ein Gewinn – natürlich wegen seiner interessanten Geschichtskenntnisse. Und um ihm eine Freude zu machen, fragte sie ihn nach den geraden Wegen und ob es die auch in Deutschland gebe?
„Aber ja, auch hier in Deutschland gibt es viele gerade Wege. In England hat man sie besser erforscht. Dort bilden sie Verbindungen zwischen Kultstätten und Kirchen – hier gibt es zum Beispiel die Totenwege.“
„Was ist denn das? Totenwege? Seht ihr Gespenster?“
„Nein, nein, das sind gerade Wege, auf denen man Verstorbene zu Friedhöfen gebracht hat. Wir haben mal einen Ausflug zu einem solchen Weg gemacht. Von Niederkrüchten nach Odilienberg.“
„Ihr wart im Elsass?“
„Nein, nicht im Elsass, der Weg liegt am Niederrhein. Schnurgerade führt er von Niederkrüchten über die Grenze nach Holland, nach Odilienberg.“
„Diese Heilige scheint mehrere Verehrungsstätten zu haben.“
„Ja, hat sie. Ich glaube, dass dir unsere Treffen und unsere Ausflüge gefallen werden.“
Treffen und Ausflüge mit Angerhaus – warum nicht?
„Aber was hat es mit den Totenwegen auf sich?“
„Darüber gibt es verschiedene Meinungen. Die Nächstliegende ist, dass die Toten an einer geheiligten Stelle beerdigt werden sollten, denn nicht jedes Dorf oder vielmehr jeder Weiler hatte eine Kirche und einen Friedhof.“
„Und was weiter?“
„Ja, das geht schon eher zurück in frühe Zeiten: Man wollte verhindern, dass der Tote zurückkehrte in seine Heimatgemeinde.“
„Aber auf geraden Wegen hatte er es besonders leicht, denke ich.“
„Klingt logisch, aber es gibt verschiedene Theorien dazu und über so etwas reden wir im Geschichtsverein.“
Na, warte, wozu gibt es Google, dachte Ruth und ließ von Friedhelm ab. Sie blickte sich in der Cafeteria um und sah die Augen von Hilde Wintzig auf sich gerichtet. Sie hatte schon seit einer Weile das Gefühl gehabt, dass Friedhelm und sie unter Beobachtung standen, hatte es aber abgeschüttelt. Nun fragte sie sich natürlich, galt das ihr oder galt es Friedhelm. Vielleicht störte es Frau Wintzig, dass Angerhaus mit ihr zusammensaß. Sicher wüsste sie gern, was da beredet wurde. Hatte Irmi Blumenthal nicht erzählt, dass Hilde Wintzig recht eifersüchtig gewesen war, was Gloria betraf.
„Wir treffen uns hin und wieder auf ein Gläschen Wein und reden auch über Themen, die nichts mit Geschichte zu tun haben. Allerdings, da fällt mir gerade ein: Wie wäre es mal mit einem kleinen Trip nach Hilden, da gibt es eine sehr schöne romanische Kirche, leider nicht so bekannt wie andere. Es lohnt sich.“
„Ja, warum nicht? Ist ja nicht allzu weit.“

Mittelalter, Hexen – Ruth kam nicht los von dem leidigen Thema. Dabei hatte Friedhelm es nicht einmal erwähnt – er gehörte lediglich einem Geschichtsverein an. Es war ihre eigene üppige Fantasie, die immer wieder bei diesem Reizwort landete. Nein – der Stachel bestand darin: Es waren Evelines Worte gewesen.

Mittwoch, 16. November 2016

Unter Verdacht Noch eine Leseprobe


So geht es weiter:

„Fein, dass ich Sie treffe, Frau Bergmann. Ich habe ein Problem, bei dem Sie mir vielleicht helfen können.“
„Dann kann es sich nur um eine Frage rund um den Computer handeln, Herr Angerhaus.“
„Ja, stimmt. Ich habe gehört, dass Sie Fachfrau sind.“
„Sehr schmeichelhaft, um was geht’s?“
Friedhelm Angerhaus hatte Ruth angesprochen, als beide den Frühstücksraum verließen. Morgens war es der Frühstücksraum, nachmittags und abends die Cafeteria. Das Angerhaus’sche Problem war schnell gelöst, aber Angerhaus blieb an Ruths Seite.
„Sie haben mit Herrn Wunderlich über Gloria gesprochen, habe ich von ihm gehört.“
„Ja. Stimmt. Sie ist leider so traurig geendet und ich wusste nicht viel von ihr. Hatte im Grunde nur Kontakt mit ihr bei der Séance in Weimar, bei der sie anschließend …“
„Nach der man sie umgebracht hat.“ Ruth hatte den Eindruck, dass Friedhelm Angerhaus gern über Gloria sprechen wollte, er hatte sie bekanntermaßen verehrt. Sie sah ihn also forschend an, er hatte so einen verschmitzten Ausdruck im Gesicht, um die Mundwinkel und in den blauen Augen. Passte gar nicht zu dem ernsten Thema. War vielleicht seine Grundhaltung dem Leben gegenüber. Er redete weiter. „Ich kannte sie in erster Linie aus den Treffen mit Frau Kolb. Das ist eine so interessante Runde.“ 
Ruth hörte aufmerksam zu, das interessierte sie wirklich. Leider, leider war man am Aufzug angekommen, aber Ruth konnte in der Fahrstuhlkabine noch sagen: „Frau Kolb hat mich kürzlich angesprochen, ob ich nicht einmal mitmachen möchte.“
„Das sollten Sie tun, es eröffnen sich ganz neue Welten.“ Ruth fasste allen Mut zusammen und fragte: „Könnten Sie mir im Ausgleich zur Computerfrage darüber etwas erzählen?“
„Aber gern, nachmittags in der Cafeteria? Fünfzehn Uhr?“
„Abgemacht.“  Ein Bündel von Neuigkeiten erwartet mich – hoffte Ruth.

Friedhelm Angerhaus hatte einen Platz am Fenster ergattert und winkte heftig, als Ruth hereinkam. Er war wie immer guter Laune und seine blauen Augen funkelten mit den Sonnenstrahlen um die Wette – dachte Ruth. Er war einer aus der jüngeren Riege im Haus am Kirchberg, einer der wenigen Jeansträger, oft ein schwarzes Hemd dazu. Flotte Jacken und Westen, je nach Anlass. Und – selten hier im Haus – volles, immer noch blondes Haar. Merkwürdig, dass Gloria so wenig Interesse an ihm gehabt hatte. Oder doch?

Sie lebten hier in einem Haus voller Geheimnisse. Wer mit wem etwas unternahm, was und wo – darüber tratschte man gern. Wer wen schon früher gekannt hatte oder vielleicht irgendwelche längst verstorbenen Familienangehörigen, woher manche Abneigungen stammen könnten – darüber wurde gerätselt. Es diente jedenfalls der Unterhaltung beim abendlichen Gläschen Wein in der Cafeteria.
Ruth konnte in Ruhe darüber nachdenken, denn Angerhaus war zur Kuchentheke gegangen, um die Torten auszusuchen, die sie gleich verspeisen würden.
„Erledigt“, sagte er und schwenkte die Zettelchen, auf denen die Bestellungen vermerkt waren. Wieder fiel Ruth der verschmitzte Ausdruck auf, anscheinend hatte er den immer.
„Esoterik bei Kaffee und Kuchen im hellen Sonnenschein, passt denn das zusammen?“, fragte Ruth ein wenig provokant. „Ich stelle mir da eher einen Abend mit fahlem Kerzenschein vor.“
„Wir sind da nicht so festgelegt und außerdem wollen wir ja nur darüber reden. Sozusagen ohne Anfassen.“ Angerhaus grinste. Anfassen? Nein danke.
„Eigentlich geht es bei unseren Treffen eher selten um Esoterik, das ist nicht mein Interessensgebiet. Wir sprechen viel darüber, was wohl die Menschen in früheren Jahrtausenden gedacht und geglaubt haben – haben könnten, denn Aufzeichnungen gibt es nicht, außer natürlich Felszeichnungen. Ich meine nicht die wundervollen Tierbilder aus der Altsteinzeit, so weit gehen wir nicht zurück. Nein, das, was man in den Megalithbauten sehen kann.“ Böhmische Dörfer.
„Das scheinen mir Themen zu sein, die Sie faszinieren, ich höre die Begeisterung heraus. Aber leider, da kann ich nicht mithalten. Wie ich schon Frau Kolb gestanden habe – bei mir beginnt die Geschichte bei den Römern.“
„Sicher interessant, ganz sicher. Aber längst nicht so geheimnisvoll wie die Zeit, die uns am Herzen liegt. Das Geheimnisvolle, das ist das, was uns reizt. Man weiß nichts Genaues und so hat jeder die Möglichkeit, eigene Gedanken dazu zu entwickeln.“
Das war eigentlich auch nach Ruths Geschmack, sie konnte sich an Gespräche mit Eveline erinnern, als sie sich eigene Gedanken zu allem Möglichen gemacht hatten. Sie musste lachen, was Angerhaus aber missverstand. 
„Das ist eigentlich ein ernstes Thema, liebe Frau Bergmann. Was erheitert Sie denn daran?“
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich dachte an die eine oder andere Verschwörungstheorie, die meine Freundin Eveline und ich entwickelt haben.“
„Verschwörungstheorien, na, ja, so weit liegt das nicht auseinander. Aber wir haben auch Fakten, auf denen wir fußen.“ Ruth war höflich und blieb aufmerksam.
„Nehmen wir mal die Theorien über die geraden Wege.“
„Gerade Wege. Römerstraßen zum Beispiel sind ausgesprochen gerade Wege.“
„Meine geraden Wege sind um einiges älter, sicher haben die Römer oft nur etwas weitergeführt, was es bereits gab.“
„Und was hat es mit Ihren Straßen auf sich?“
„Ich habe mal eine Studienreise nach England mitgemacht, die sich diesen Wegen widmete. Wir sind über sie gewandert. Dass sie eine Bedeutung haben, sieht man schon daran, dass häufig Gräber – vielleicht Kultstätten – an ihrem Rand liegen.“
„Das sind Dinge, von denen ich gar keine Ahnung habe.“
„Ich kann Ihnen gern Literatur dazu ausleihen.“
„Mal sehen.“
Ruth war verblüfft über die Begeisterung und die Kenntnisse von Angerhaus. Sie hatte gedacht, er sei nur Teilnehmer der Runden bei Frau Kolb, um Gloria näher sein zu können. Er hatte das eine mit dem andern verbunden.

Inzwischen waren die Tortenstücke verputzt, der Kaffee ausgetrunken und Ruth war noch weit von dem Thema entfernt, das sie bei Angerhaus anschneiden wollte: Gloria Molenbeck. Aber eigentlich müsste das leicht sein, denn er hatte sie offensichtlich verehrt. Also …
„Ich mache mal einen Sprung zurück ins Hier und Jetzt; ich wollte Sie fragen, ob Sie den Umkreis von Gloria Molenbeck kennengelernt haben.“
„Ach, wozu wollen Sie das denn wissen?“
Ruth gab sich einen Ruck und war ehrlich. „Ich bin von einem Freund der Frau, die wegen des Mordes an Frau Molenbeck im Gefängnis ist, gebeten worden, etwas mehr über Frau Molenbeck herauszufinden. Ein Mord geschieht nicht einfach so, in den meisten Fällen hat er etwas mit dem Leben des Opfers zu tun. Und ich weiß so gar nichts über sie.“
Angerhaus war ganz still geworden, seine Hochstimmung war dahin.
„Ja, da mögen Sie wohl Recht haben. Ich habe auch darüber nachgedacht, wer Gloria das angetan hat. Sie hat keine Verwandten, ihre Männer sind alle tot. Das hat sie jedenfalls gesagt. Und hier im Haus kannte sie niemanden näher. Auch darüber haben wir gesprochen. Ab und zu nahm sie sich mal Zeit für mich und ließ sich von meinen Reisen in die Vergangenheit erzählen. Wir hatten ein ganz besonderes Verhältnis zueinander. Meine Erklärung ist die, dass die Freundin aus alten Tagen einen Grund hatte. Frau Ludwig hat mir von dem Fortgang in Weimar erzählt, sie hat weiter Verbindung zu der Pension, in der sich alles abgespielt hat.“
Nix bleibt verborgen im Haus am Kirchberg.

Später ließ Ruth alles Revue passieren, was sie am Nachmittag gehört hatte. Sie befand sich in einem leicht euphorischen Zustand und wusste nicht recht, ob es an den Themen oder an Angerhaus lag.

Leseproben Unter Verdacht


Dienstag, 15. November 2016

Unter Verdacht Die Veröffentlichung naht


Aus Kapitel 4

Sonntagmorgen. „Knock-knock“: „Ich komme nach Düsseldorf. Peter“.
Ruth wunderte sich. Was will er in Düsseldorf? Er wird wohl einen Bericht darüber hören wollen, was ich in Sachen Nachforschungen getan habe. Mist.


Es war vier Uhr nachmittags und Ruth hatte sich gerade ihren Sonntagnachmittagskaffee zubereitet, als sich ihr Telefon meldete.
„Hallo Ruth, ich bin angekommen. Ich wohne in einem Hotel am Hofgarten. Können wir uns sehen?“
„Guten Tag, Peter. Natürlich können wir uns sehen. Willst du hierherkommen? Hier können wir in Ruhe reden.“
„Gern, liebe Ruth. Deine Adresse kenne ich ja, mein Navi weiß Bescheid.“ Gespräch beendet. Wann wollte der kommen? Sofort? Warum nicht. Ihre Eitelkeit ließ sie zum Kleiderschrank eilen und den Inhalt sichten. Ach, was. Ich bleib wie ich bin. Kurz darauf meldete die Rezeption den Besuch an.

Peter sah aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte: helle Augen, kurze graue Haare. Anzug. Sie stellte fest, dass sie sich freute, ihn wiederzusehen.
„Komm rein und nimm Platz.“ Er wickelte eben noch die Blumen aus dem Papier, überreichte den kleinen Biedermeierstrauß und ging durch die Diele ins Wohnzimmer. Überrascht blieb er in der Nähe des Fensters stehen.
„Du hast aber einen fabelhaften Überblick.“ Ruth musste lachen und dachte: Schön wär’s, wenn ich den auch sonst hätte. Aber sie war stolz auf den Blick über die ganze Kölner Bucht und erklärte erst einmal alles. Die diversen kleinen Nachbarstädte von Düsseldorf, die Kirchtürme und die Schornsteine bekannter Firmen.  

Nach weiteren Vorbereitungen wie: Blumen ins Wasser, Kaffee kochen, das „gute“ Porzellan herausholen und Kaffee eingießen, nahm Ruth Peter gegenüber in ihrem Sessel Platz und wollte von ihm wissen, ob er eine gute Fahrt gehabt habe, gut untergebracht sei und wie es ihm ansonsten gehe.
„Schlecht.“ Das war die einzige Antwort auf ihre Fragen. Kein schöner Auftakt. Peter sah Ruth schweigend an, vorwurfsvoll schweigend. Und Ruth fühlte sich entsprechend unbehaglich. Ihre einzige Entschuldigung vor sich selbst: Sie hatte ihn nicht gebeten, hierherzukommen.
„Du hast sicher eine Liste der Teilnehmer an der Fahrt nach Weimar, die sollten wir gemeinsam durchgehen.“
„Natürlich habe ich die Namen und wir können sie durchgehen. Aber ich selbst habe natürlich in den letzten Wochen immer wieder überlegt, wer von den Leuten hier aus dem Haus Grund gehabt haben könnte, Gloria Molenbeck etwas anzutun.“
„Diese Gloria hatte eine schwere Lungenkrankheit, sie war leicht zu ersticken, da kommen aus Sicht der Polizei auch Frauen in Betracht – so wie die arme Annette. Was sagt denn Eveline dazu? Kommt sie gleich?“ Peter sah sich um, als müsse sie gleich zur Tür hereinkommen. Und Ruth sah ebenfalls zur Tür, nur um Peter nicht ansehen zu müssen.
„Sie ist nicht hier. Sie ist im Krankenhaus. Liegt im Koma. Ist gestürzt.“ Nun sah sie Peter doch ins Gesicht. „Irgendjemand muss Schuld haben an ihrem Sturz. Und …“
„Und?“
„Und ich denke, der oder die, die Gloria ermordet hat, wollte auch Eveline schaden. Sie muss eine Idee gehabt und jemand angesprochen haben und der oder die …“
„Also jemand aus eurer Gruppe. Meine Meinung. Hast du eine Ahnung, wer?“
„Sie hat im Krankenhaus kurz gesprochen: ‚Die verdammten Hexen‘ hat sie gemurmelt.“
„Wer sind die verdammten Hexen? Das muss etwas mit der Séance zu tun haben.“
„Henk, ihr geschiedener Mann, und ich haben gedacht, sie hätte die beiden Schwestern gemeint, die mitgereist waren.“ Ruth breitete ihre Vermutungen über die Schwestern und den Sohn aus. Und dass Henk, der Rechtsanwalt, dem nachgehen werde.
Peter taute langsam auf, als er sah, dass sich doch etwas tat.
„Lass uns diese Liste durchgehen. Das Zimmermädchen im Rosenhag hat nicht nur Annettes Stimme im Zimmer von Gloria gehört, da war später eine weitere Stimme, heiser, hätte auch ein Mann sein können. Aber das hat die Polizei nicht weiter interessiert – sie haben ja Annette.“
„Woher weiß man denn, dass es tatsächlich Annettes Stimme war?“
„Eine Art Stimmen-Gegenüberstellung. Annette musste etwas sagen, ebenso wie ein paar Polizistinnen. Das Zimmermädchen hat Annettes Stimme erkannt. Aber Annette leugnet ja nicht, dass sie bei dieser Gloria war.“
„Aber das will nicht unbedingt etwas heißen, vielleicht haben sie nur Erinnerungen ausgetauscht.“
„Ja, das hat ihr Anwalt natürlich auch eingewendet, aber die gemeinsame Vergangenheit …“
„Ich habe mir viele Gedanken gemacht, seit du mich gebeten hast, darüber nachzudenken. Die Schwestern – darum kümmert sich Henk. Das Ehepaar Overkamp hat zwar auch in Düsseldorf gewohnt, aber wo da eine Verbindung zu Gloria sein soll, keine Ahnung. Ich kann sie schlecht fragen. Dann Hilde Wintzig, von der ich sehr wenig weiß, und Friedhelm Angerhaus, ein Verehrer von Gloria Molenbeck.“
„Da war aber noch die Reiseleiterin.“
„Frau Ludwig? Da habe ich auch keinen Anhaltspunkt. Und ist es nicht eigentlich Aufgabe der Polizei, sich um die Aufklärung zu kümmern?“
Peter sprang auf und lief zur Tür, als wollte er gehen. Was ist los?
Dann kehrte er um und fasste Ruth, die ebenso aufgesprungen war, am Arm. „Du machst es dir leicht. Ist es denn zu viel verlangt, hier die Augen offen zu halten?“
„Aber Peter, was soll das, ich will dir ja helfen, nur wie?“
„Helfen, davon merke ich nichts. Keine Ahnung, keine Anhaltspunkte. Offensichtlich keine Fantasie!“
„Aber Peter, so kannst du nicht mit mir umgehen. Das verbitte ich mir. Überlass das der Polizei und lass mich zufrieden. Oder hast du etwa selbst etwas zu verbergen? Kanntest du Gloria nicht aus früheren Zeiten?“ Ruth war erbost über Peters Attacke, aber das hätte ich nicht sagen dürfen.
Peter hatte sie jetzt mit beiden Armen gepackt und starrte ihr wütend ins Gesicht. „Schämst du dich nicht, du willst deine Ruhe haben, alles ist dir recht, um mich abzuwimmeln. Üble Verdächtigungen, mit uns Ossis kannst du so umgehen, haben ja alle Dreck am Stecken. Fehlt nur noch, dass du die Stasi ins Spiel bringst. Pfui, Teufel.“

Ruths Adrenalinspiegel war so hoch wie lange nicht, ein Gefühl im Rücken, als schwappte da tatsächlich etwas hin und her. Wütend war Peter verschwunden, hatte ihre Korridortür zugeschlagen. Wieso war der überhaupt ins Rheinland gekommen? Was hatte er am Telefon kurz erwähnt? Sein Verein hatte eine Tagung. Wenn der sich nicht entschuldigt, dann lege ich das zu den Akten.
Aber der Stachel: Eveline war attackiert worden, irgendwie. Hier im Haus. Übrigens, ein Name war gar nicht gefallen: Gudrun Kolb. Die hatte der doch auch kennengelernt bei der Séance. Aber mich angreifen. Keine Fantasie! Vielleicht hatte er tatsächlich selbst etwas zu befürchten und war deshalb so scharf auf eine Entlastung. Er hatte zudem die Stasi erwähnt.
Ruth stopfte sich das letzte Stück Schokolade in den Mund, das brauchte sie jetzt. Und die frische Luft auf dem Balkon. Und den Anblick ihres Lieblingshimmels: blau mit weißen Wolken. Schön. Beruhigend. Den wünschte sie sich auch fürs ewige Leben.

Montag, 14. November 2016

Unter Verdacht:Es geht weiter mit den Leseproben

Aus Kapitel 4

„Kommen Sie doch an meinen Tisch, Frau Bergmann. Wir sollten mal wieder eine Tasse Kaffee zusammen trinken.“
Ruth war heruntergekommen, um noch einmal ein Eis zu essen und nahm das Angebot von Gudrun Kolb dankend an. Es war wie immer an Samstagen sehr belebt hier unten. Verwandte machten Besuche, gern oder weniger gern – man konnte es an ihren Gesichtern und der Sitzhaltung ablesen. Immer noch war es Sommer draußen vor den großen Fenstern der Cafeteria, ein leichter Blumenduft zog durch ein Oberlicht herein. Ruth blickte heute leider nicht aus dem Fenster, sondern auf die Wand, an der die kleine Bar eingerichtet war. Durch die Tür daneben gingen die Serviererinnen ein und aus und ließen sich an der Kuchentheke rechts davon die Tortenteller für ihre Bestellungen fertigmachen.
„Ich möchte meine Einladung, in unseren Kreis zu kommen, gern wiederholen. Es ist immer interessant, auch wenn wir nur ganz selten einmal eine Séance abhalten. Mit dem Gedanken daran habe ich Sie leider abgeschreckt. Aber wir haben auch andere Themen.“ Frau Kolb lächelte und blickte in den Garten hinaus. „Sie wissen sicher, dass die Magie die älteste Form der Religion der Menschen ist.“ Oh nein.
„Mit Magie habe ich mich noch nie befasst, außer dass ich ab und zu an Holz klopfe, wenn ich etwas verhindern will.“

Gudrun Kolb lachte jetzt laut und sagte: „Den Zusammenhang kennen Sie also.“ Ihre braunen Augen blitzten, sie war bei ihrem Lieblingsthema, das war deutlich. „Ich bin zu diesen Themen gekommen nach einem schweren Schicksalsschlag, der mich völlig aus meinen Lebenszusammenhängen gerissen hat. Ich saß enttäuscht da und suchte nach etwas Sinnvollem, mit dem ich mich beschäftigen könnte. Damals begann die Zeit, in der alle Welt von Esoterik zu sprechen anfing, als man überall Seminare dazu veranstaltete.“
Ruth war diesen Versuchungen nie erlegen, dazu war sie zu nüchtern und zu skeptisch. Gudrun fuhr fort: „Wir beschäftigen uns zurzeit mit Themen der Vorgeschichte, einer Zeit, in der es noch keine Götter gab, sondern magische Kräfte für alles verantwortlich gemacht wurden. Erfreulicherweise haben wir das Internet zur Verfügung. Sowohl Bilder als auch Texte.“
Das Loblied auf das Internet erfreute Ruth natürlich und sie ergriff die Gelegenheit, erst einmal vom Thema Magie wegzukommen.
„Da haben Sie Recht, ich suche meine Informationen auch im Netz. Ich beschäftige mich gerade mit dem Thema SED.“
„SED?“
„Ja, Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Bitte wundern Sie sich nicht, ich versuche herauszufinden, was unsere Weimarer Bekannten mit Frau Molenbeck verbunden haben könnte. Die Verdächtige in Weimar ist eine Jugendfreundin von Molenbeck.“
„Warum wollen Sie das denn wissen? Der Fall ist doch klar, diese Jugendfreundin …“
„… war vielleicht gar nicht die Täterin.“
„Ach, meinen Sie? Von ihrer Vergangenheit in Weimar hat Gloria nicht viel erzählt.“ Gudrun Kolb lehnte sich nach vorn, sah Ruth an und fuhr fort: „Schade, dass Sie sich nicht für meine Themen interessieren. Ich bin noch ganz begeistert von meinem Besuch im Museum für Ur- und Frühgeschichte in Weimar. Was ich da alles gesehen habe. Das ist ein Fundus aus frühen Sammlerbeständen, dann aus Ausgrabungen in der Zeit der DDR und auch aus den letzten fünfundzwanzig Jahren. Mitteldeutschland hat so vieles an alten Stätten zu bieten.“ Gudrun Kolb hatte ganz strahlende Augen bekommen, so sehr war sie in ihrem Element. „Gerade das Weimarer Land ist reich daran: Jungsteinzeit, Bronze- und Eisenzeit – ich gerate ins Schwärmen. Ich habe mir genug Unterlagen mitgebracht, über die wir auch schon gesprochen haben.“

Ruth fand das sehr sympathisch, konnte aber nicht mitschwärmen.
„Bei mir beginnt die Geschichte bei den alten Römern, das ist etwas Handfestes. Meine Freundin Eveline und ich waren natürlich in Weimar unterwegs, allerdings mehr auf den Spuren von Goethe. Sehr beeindruckt hat uns das Schlösschen Tiefurt. Diese schöne Einfachheit. Und dabei war es ein Fürstenhof.“
„Wie geht es denn Ihrer Freundin? Ich habe gehört, dass sie gestürzt ist. Das kommt ja leider sehr häufig vor hier im Haus – unser Alter eben. Was sagt sie denn, wie es passiert ist?“ Gudrun Kolb schien ehrlich interessiert, aber Ruth hatte Hemmungen, vor ihr das Wort „Hexen“ zu äußern. Zum Thema Weimarer Vergangenheit konnte sie jedoch nicht zurückfinden. Also jetzt zu ihrer Freundin Eveline.
„Wir wissen es nicht, sie wurde ins Koma gelegt, vorsichtshalber.“
„Ach“, war Gudrun Kolbs kurze Antwort. Sie schien erleichtert, vielleicht wollte sie nichts Negatives hören. Denn das prasselte ohnehin von allen Seiten auf die Bewohner des Hauses am Kirchberg nieder, dachte Ruth. Draußen war die Welt aus den Fugen geraten. Die Fernsehnachrichten brachten vielen Bewohnern Erinnerungen aus der Jugendzeit zurück: Flugzeuge, Bomben, Trümmer. Und denen, die aus dem Osten stammten: Flüchtlingszüge.